«Ich bin schwul und deswegen kein besserer oder schlechterer Chef»
So reagiert ein Unternehmer auf Post von den Zeugen Jehovas
Adrian Berchtold, Geschäftsführer der Schweizer Firma Ruckstuhl, hat Post von den Zeugen Jehovas bekommen, genauer vom Ehepaar Dora und Urs Brauchli aus Huttwil. Doch bei dem homosexuellen Unternehmer sind sie an den Falschen geraten.
Die Zeugen Jehovas mit nach eigenen Angaben gut 8,5 Millionen Mitgliedern weltweit sehen die Ehe als eine dauerhafte Verbindung zwischen Mann und Frau, Homosexualität ist Sünde. Als unmoralisch betrachtet man «Ehebruch, Prostitution, sexuelle Beziehungen zwischen Unverheirateten, Homosexualität und Sodomie». Ihre Kinder nehmen nicht an Klassenfahrten oder am Religionsunterricht teil – die Abstammungslehre Darwins wird bestritten. Wer aus der Sekte austritt, wird sozial geächtet.
«Du sollst nicht bei einem Mann liegen wie bei einer Frau»?
Diese Religionsgemeinschaft, die in der Schweiz laut SRF 20.000 Mitglieder zählt (Tendenz steigend), hat nun eine Art Werbebrief an Unternehmer (ausdrücklich nicht Unternehmer*innen) mit einer Sonderausgabe der religiösen Zeitschrift Wachturm geschickt. Auch Adrian Berchtold, Geschäftsführer der Firma Ruckstuhl und Präsident des Verwaltungsrates, hat ihn bekommen. Warum er diese Post ebenso wie die Absender*innen an sich ablehnt, schreibt er in einem Brief an das Ehepaar Brauchli, der MANNSCHAFT vorliegt.
«Sie haben uns unverlangt Werbung für die Zeugen Jehovas zugestellt. Grundsätzlich finden wir es schön, wenn jemand an uns denkt. Jedoch vermute ich hinter Ihrem Gedanken ein eher irdisches Motiv, denn Religion kostet offenbar Geld. Anders kann ich mir nicht erklären, wieso ausdrücklich Geschäftsinhaber oder Geschäftsführer angeschrieben werden. Von Geschäftsinhaber*innen und Geschäftsführer*innen ist in Ihrem Brief übrigens nicht die Rede. Diversity findet bei Ihnen immer noch nicht statt, das ist im Jahr 2020 nach Christus wirklich schade. Falls Ihnen der Begriff nichts sagen sollte, hilft Ihnen Google bestimmt weiter.»
Die Ehe für alle setzt keine Verfassungsänderung voraus
Die Firma Ruckstuhl, die 1881 in Langenthal im Kanton Bern gegründet wurde, ist eine Manufaktur, in welcher um die 30 Mitarbeitende aus 16 Nationen zusammenkommen, erklärt Berchtold. Geschlecht, Herkunft, Ethnie, Religion, Politische Meinungen und sexuelle Orientierung: Nebensache. «Wie und mit wem unsere Mitarbeitenden ihre Freizeit verbringen, ist ihre Privatsache. Wir sehen uns als neutralen Ort, wo man sich mit Respekt begegnet, aufeinander zu geht und sich dennoch als Individuum entfalten kann.»
Dort arbeiteten Menschen zusammen, von Völkern die sich in ihrer Heimat bekämpften und am Arbeitsplatz entstand eine innige Freundschaft. «Eine Mitarbeiterin lebt mit einer Frau zusammen und Menschen mit buddhistischer Religion arbeiten mit Menschen muslimischen Glaubens. Ich als der Geschäftsführer und Präsident des Verwaltungsrates von Ruckstuhl bin schwul und bin deswegen kein besserer oder schlechterer Chef, als wenn ich es nicht wäre. All dies spielt aber wie gesagt zur Ausübung unserer Tätigkeit einfach keine Rolle, macht uns aber als Menschen aus.»
«Wir sind froh und glücklich, sind wir hier alle sehr verschieden.» Zusammen verfolge man ein gemeinsames Ziel: Teppiche und Akustiklösungen von hoher Qualität. «Gemäss dem, was ich von meinem Elternhaus mit auf den Weg bekommen habe, soll Religion Hoffnung machen und Menschen aufbauen. Sie soll in dunklen Stunden Menschen, die es nötig haben, Hoffnung und Mut geben.»
Berchtold weiter: «Ihr Propagandablatt Wachturm wirkt auf mich alles andere als ermutigend: Von «Schlechte Menschen beseitigen» ist zum Beispiel auf Seite 12 die Rede. Gebe ich auf der offiziellen Seite der Zeugen Jehovas unter der Suchfunktion «Homosexualität» ein, erscheint ein Artikel «Was sagt die Bibel zum Thema Homosexualität?» worin zum folgende Passage zu finden ist: «Die Bibel unterscheidet zwischen Neigungen und Handlungen (Römer 7:16-25). Wer zu homosexuellen Wünschen neigt, kann entscheiden, ob er dem in Gedanken nachgeht oder nicht –genauso wie bei Wut, Ehebruch, Gier und anderen verkehrten Wünschen (1. Korinther 9:27;2. Petrus 2:14, 15).» Lese ich, was Ihre Sekte zu Homosexuellen und anderen Menschen mit, wie Sie es nennen, «verkehrten Wünschen» denkt, muss ich davon ausgehen, dass ich im «Reich Gottes» der Zeugen Jehovas gar keinen Platz hätte, da ich vorher «entfernt» worden wäre.
Es ist knapp 80 Jahre her, als Menschen wie ich, die nicht dem damaligen Gesellschaftsbild entsprachen, auch «entfernt» wurden. Mir läuft es deswegen beim Durchlesen Ihres auf den ersten Blick harmlos aussehenden Heftchens eiskalt den Rücken herunter und ich frage mich ernsthaft, wie Menschen solche schrecklichen Botschaften unter dem Deckmäntelchen von Glaube und Nächstenliebe verbreiten können.»
«Würde nie Menschen wegen sexueller Ausrichtung verurteilen»
Für den Unternehmer sei also der Fall klar: «Ich nutze die Zeit, die mir bleibt, sei sie kurz oder lang, ob mit Weltuntergang oder hoffentlich ohne und umgebe mich mit Menschen, die ich liebe und die mich lieben. Diese dürfen allen Religionen oder keiner angehören, Lieben wen sie wollen, und sein wie sie wollen, verkehrt oder nicht verkehrt. Und ich werde weiterhin mit aller Kraft dafür einstehen, dass meine Mitarbeitenden alle das gleiche tun. Ihr Propagandaheftchen befindet sich im Altpapier.»
Wie schwer es Homosexuelle bei den Zeugen Jehovas haben, zeigt übrigens diese SWR-Reportage über Alex, der in der Sekte gelernt hat: «Wenn du schwul bist, gehst du einen teuflischen Lebensweg und wirst sterben.»
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