«Ich wusste nicht, ob ich noch etwas zu sagen habe»
Nach seinem Erfolgsdebüt «The Golden Age» (2013), einer Hommage an die schwule Liebe, legt Woodkid alias Yoann Lemoine ein nicht minder ausdrucksstarkes Zweitwerk vor: «S16»
Woodkid ist zurück. Wir sprachen im Herbst mit dem Franzosen über Musik als Werkzeug, Homonegativität und den Reiz der Vielschichtigkeit.
Woodkid, wo bist du und wie ist die Lage dort? Draussen ist es sonnig. Ich bin in Paris, in meinem Studio. Die Zahl der Neuinfektionen nimmt wieder zu. Auch auf den Strassen müssen wir deshalb Masken tragen. Konzerte gibt es keine mehr. Ein stetes Auf und Ab. Aber irgendwie lernen wir langsam, damit zu leben. Gerade wurde ein Ranking veröffentlicht, das sich mit den «nutzlosesten» Jobs in der Krise beschäftigt. Künstler zu sein, belegte den ersten Platz.
Hoffentlich fühlst du dich nicht nutzlos, denn das bist du keineswegs! Welchen Stellenwert hat Musik für dich persönlich? Als Kind hatte ich einen kleinen CD-Player neben meinem Bett stehen, der Soundtracks von Filmen abspielte, die ich nicht einmal gesehen hatte. Während ich zuhörte, kreierte ich meine eigenen Bilder im Kopf. Mit geschlossenen Augen. Meiner Meinung nach beschreibt das recht gut, wie ich Musik konsumiere.
Neben der Tatsache, dass du Songs schreibst, scheinst du auch grossen Wert auf die visuellen Aspekte deiner Arbeit zu legen. So simpel es auch klingen mag, aber ich bin nun mal Regisseur. Seit über zehn Jahren. Das ist meine Natur. Ich habe das nie als Obsession verstanden, sondern vielmehr als Job. Auch wenn eine gewisse Leidenschaft natürlich damit einhergeht. Es kommt eben darauf an, ob ich etwas für mich selbst realisiere oder für eine*n andere*n Künstler*in. Dann muss man die eigenen Vorstellungen beiseitetun und das machen, was von einem erwartet wird.
Wie queer ist … Taylor Swift?
Du hast kürzlich die LP «S16» auf den Markt gebracht. Warum hat es nach deinem Debüt sieben Jahre dafür gebraucht? Ich habe gar keine wirkliche Antwort darauf. Jetzt war eben der richtige Zeitpunkt. Ausserdem ging es mir eine Weile ziemlich schlecht. Nach meiner ersten Welttournee begann ich, meine Identität als Künstler zu hinterfragen. Damals wusste ich nicht, ob ich noch einmal etwas zu sagen haben würde. Ich kollaborierte viel mit anderen und durfte von ihnen lernen. Das half mir, Abstand zu gewinnen. Mir ging es darum, etwas Kreatives zu erschaffen, wenn es so weit ist, und nicht darum, mich auf subjektive Selbstkritik zu versteifen. Statt mich also auf mein Zerbrochensein zu stürzen, erwachte eine ungeahnte Inspiration und Neugier in mir.
Verspürtest du in irgendeiner Weise Druck bezüglich dieses zweiten Albums? Offiziell müsste ich jetzt nein sagen. In Wahrheit machte ich mir aber in die Hosen vor Angst. Diese Platte bedeutet mir unglaublich viel. Ich enthülle sehr intime Dinge und hoffe, dass die Hörer*innen eine Bindung mit den Songs eingehen können. Das Gegenteil wäre schmerzhaft.
Das bisherige Feedback scheint recht positiv. Ja. Aus zwei Gründen macht mich das glücklich. Zum einen, weil die Musik den Leuten gefällt. Zum anderen aber auch, weil es zeigt, dass man sich durchaus Zeit und Ruhe für etwas nehmen darf. Oft hat man den Eindruck, es zähle nur noch schneller, grösser, weiter in unserer Gesellschaft. Die Streamingportale haben ihren Teil dazu beigetragen. Allerdings wird man so weder der künstlerischen Komplexität noch der dahinterstehenden psychischen Gesundheit des Individuums gerecht. Schade.
Mit welchen Ideen hast du dich der Arbeit an «S16» genähert? Grundgedanke war, sich mit der Toxizität von Städten auseinanderzusetzen. Das mag eventuell seltsam klingen, doch das war der Anker für dieses Projekt. Ich wollte eine Industrial-Platte aufnehmen. Nur was bedeutet das überhaupt? Kann man noch Musik wie in den Achtzigern machen, in denen das Genre seinen Ursprung fand? Die Welt hat sich seitdem verändert. Mir ging es nicht nur um die Verwendung metallener Klänge. Vielmehr interessierte es mich, über politische Systeme zu sprechen. Über Industrie und Technologie. All das wirkt utopisch und dystopisch zugleich. Am Ende sind diese Themen dann aber trotzdem nur eine Maskerade, hinter der sich die Auseinandersetzung mit menschlichen Beziehungen verbirgt. Metaphern, die das Offensichtliche nutzen, um über das Verborgene zu philosophieren.
Können menschliche Beziehungen denn ebenfalls toxisch sein? Aber sowas von!
Und wie steht es um dein Zuhause? Hast du manchmal das Gefühl, der Stadt entfliehen zu müssen, weil sie dich und deinen Geist vergiftet? Ich liebe Paris von Herzen. Da ich als Musiker viel reise, mag ich es, zurückkommen zu dürfen. Egal wie schwer es auch ist, hier zu leben, irgendwie bleibt die Stadt übersichtlich. Das gefällt mir. Man kann die meisten Ziele sogar zu Fuss erreichen.
«S16» – bei dem Titel deines neuen Albums scheint es sich um ein chemisches Symbol zu handeln. Ist das richtig? Nun wird es nerdig. Das S steht für das Element Schwefel, 16 für dessen Ordnungszahl im Periodensystem. Ich befasste mich schon früh mit Schwefel als Analogie für Toxizität. Je mehr ich dann in Erfahrung brachte, desto klarer wurde mir, dass dieser Stoff alle Konzepte enthält, über die ich reden wollte. Seine ambivalente Rolle in der Medizin und Landwirtschaft faszinierten mich ebenso wie seine Verbindung zu Feuer und saurem Regen. In der Alchemie steht der Schwefel für den Teufel. Man findet ihn an vielen Orten, die ein Überleben kaum zulassen. Vulkane oder Minen. Ein vielschichtiges Element, das Anziehung und Abstossung hervorruft. Auf «S16» geht es genau darum. Um die menschliche Faszination für Dinge, die wir gern vorschnell als böse deklarieren.
Früher hätte ich behauptet, dass es mich nicht definiert, schwul zu sein. Was jedoch kompletter Schwachsinn ist.
Du hast eine Regenbogenflagge in die Beschreibung deines Instagram-Profils gesetzt. Warum? Mich inspirieren Persönlichkeiten, die hart dafür arbeiten, Grenzen und Vorurteile gegenüber Geschlechtern und Sexualität abzubauen. Mein erstes Album, «The Golden Age», war eine Liebeserklärung an Männer. Es war der erste Schritt, mehr mit mir selbst in Verbindung zu treten, laut zu sagen, wer ich bin, und stolz darauf zu sein. Aber es liegt noch ein weiter Weg vor mir. Bisher habe ich nicht vollkommen verstanden, was Stolz wirklich heisst. Als «The Golden Age» erschien, sprach ich öffentlich kaum über meine Homosexualität, da ich nicht zum Objekt gemacht werden wollte. In Interviews umging ich zudem jegliche Tiefgründigkeit. Heute ist mir klar, dass das ein Zeichen für meine internalisierte Homonegativität war. Und das sage ich mit einer gewissen Emotionalität.
Vermutlich geht es vielen ähnlich. Früher hätte ich behauptet, dass es mich nicht definiert, schwul zu sein. Was jedoch kompletter Schwachsinn ist, da diese Tatsache einen starken Einfluss darauf hat, wer ich bin, wer meine Freunde sind, wo ich gern feiern gehe, welche Musik ich mag und sogar, was ich am liebsten esse. Es ging eben nur lange, bis ich mir der Schönheit dessen bewusst werden und annehmen konnte. Jetzt bin ich kritischer und hinterfrage meine Ansichten stärker. Genauso wie gesellschaftliche Konstrukte, Maskulinität oder die Geschlechterzuordnung. Ich habe viel an mir gearbeitet – auch wenn es weiterhin Dinge gibt, die unbereinigt sind. Als offen schwuler Künstler möchte ich mich entschuldigen, falls ich meiner Verantwortung nicht immer nachgekommen bin oder falsche Dinge gesagt habe. Ich stecke viel Hoffnung in die jüngeren Generationen. Wenn man sich mit ihnen unterhält, merkt man, wie anders sie vieles sehen. Für mich ist das ein Zeichen des Durchbruchs. Zumindest will ich daran glauben.
«S16»
Woodkid entfesselt auf «S16» eine Kraft, die ihresgleichen sucht. Schallende Trommeln sowie blecherne Synthesizer dominieren die Soundkulisse, werden gleichzeitig aber durch den fragilen Falsettgesang des Franzosen kontrastriert. Mit dieser Mischung aus Opulenz und Reduktion stellt Woodkid selbst das Erbe seines gefeierten Debüts «The Golden Age» (2013) in den Schatten. Erschienen am 16.10.2020, (Island/Universal Music)
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