Unter die Haut: Das Tattoo als Medium
Zu Besuch in einem sicheren Raum in Berlin
Mit ihrem Studio «Nowhereland Tattoo» in Berlin hat Orne Gil einen Safe Space für ein queeres Publikum geschaffen – frei von patriarchischen, rassistischen, trans- oder homophoben Strukturen. Tattoos sind für Orne nicht nur Bilder, sondern ein Medium, um Körper zu stärken, die von gängigen Vorstellungen abweichen.
Es hat schon etwas sehr Intimes, wenn dir ein Gegenüber mit einer oder mehreren Nadeln nahekommt. Wenn es wieder und wieder in deine Haut sticht, um etwas zu hinterlassen, das dazu bestimmt ist, dich bis zu deinem Tod – und sogar noch ein Stück darüber hinaus – zu begleiten. Ein Akt, der Vertrauen bedarf, aber auch Neugier, Mut, Entschlossenheit und kreatives Vorstellungsvermögen. Sowohl auf der einen als auch der anderen Seite der vibrierenden, knarzig summenden Tätowiermaschine.
Circa 17 bis 20 Prozent der Deutschen, Österreicher*innen und Schweizer*innen haben mindestens ein Tattoo, wobei die Anzahl in den jüngeren Altersklassen deutlich höher ist als in den älteren. Was die Menge an Tattoostudios betrifft, hat sich diese seit den Achtzigern verfünfzigfacht. Entwicklungen, die zeigen, wie beliebt die schwarzen oder teils auch farbigen Bilder auf der Haut geworden sind.
Weibliche, nicht-binäre oder trans Tätowierer*innen sucht man mit der Lupe
Männliche Dominanz Wie Vieles in unserer patriarchalisch ausgerichteten Welt ist auch die Tattoo-Szene vorrangig cis-männlich geprägt. Weibliche, nicht-binäre oder trans Tätowierer*innen muss man nach wie vor mit der Lupe suchen. Eine Tatsache, an der Bewegungen wie die der queeren Tattoo-Community nachhaltig etwas ändern wollen. Zu jener gehört auch Orne Gil. Die ursprünglich aus Caracas stammende 35-Jährige begann vor elf Jahren in Italien damit, zu tätowieren. Später gründete sie die Cairo Tattoo Convention, die erste ihrer Art im Nahen Osten, zog nach Berlin, nachdem sie aufgrund ihrer Homosexualität 2017 verhaftet worden war, und konzentrierte sich zunehmend auf queere Aspekte der Tattoo-Kunst.
«Berlin ist für mich ein sicherer Ort, an dem ich sein kann, wer ich bin, und an dem ich mein Leben in vollen Zügen geniessen darf», erklärt Orne. Dank der queeren Community und des politischen Aktivismus in der Spreemetropole habe sich ihr Leben radikal verändert. «Es ist eine Stadt, in der man, wenn man als Migrant*in hart arbeitet, immer noch die Chance hat, sich Träume zu erfüllen.» Und genau das tat die Venezolanerin, als sie 2020 zusammen mit Iratxe Ugarte das LGBTIQ-Kollektiv Nowhereland Tattoo initiierte sowie den gleichnamigen Laden im Stadtteil Kreuzberg eröffnete.
Ein geschützter Ort «Es war uns ein Bedürfnis, einen sicheren Raum für all die Menschen am Rande einer diskriminierenden heteropatriarchalen Gesellschaft in der Tattoo-Szene zu schaffen», erklärt Orne und führt weiter aus: «Wir sehen Tattoos nicht nur als Bilder, sondern als ein Medium, um dissidente1 Körper zu stärken.» Aus der Sicht Ornes sei es notwendig, auch physisch Schranken zu schaffen, vor denen sich Verurteilungen und Ausgrenzungen beugen müssten – seien sie sexistischer, homophober, transfeindlicher und rassistischer Art. Hinter der Tür von Nowhereland Tattoo sind Akzeptanz und Toleranz angesagt.
Der Name Nowhereland ist von dem Beatles-Song «Nowhere Man» inspiriert. «Ich erkenne mich in diesem Lied wieder, weil ich mich ohne festes Zuhause empfinde und auf der ständigen Suche nach einem Ort bin, der Heimat heissen könnte.» Als People of Color mit Migrationshintergrund und Opfer von Diskriminierung ist Orne Gil die Zusammensetzung ihres Tätowierer*innen-Kollektivs ein besonderes Anliegen.
«Die meisten von uns sind Immigrant*innen. Sie kommen aus dem Baskenland, Venezuela, Kasachstan, Chile, Syrien, Russland, Spanien und Italien. Jeden Monat besuchen uns zudem neue Gäste aus der ganzen Welt, immer aus der queeren Szene». Es werde versucht, ein Netzwerk aufzubauen, das über das Tätowieren hinausgehe, macht Orne deutlich. Vielmehr solle ein Hilfesystem entstehen, das Menschen unterschiedlichster Identitäten und Geschlechter zur Verfügung steht.
Auf Stippvisite im kreativen Niemandsland Zu Ornes Stammkunden*innen zählt auch Daddy Dyke. Der 26-Jährige führt die Strippergruppe Magic Dyke (Instagram: @magicdykeberlin) an. Wir begleiten ihn, als er sich ein Butch-Femme-Paar2 stechen lässt. «Ich bin trans Butch. Das ist ein wichtiger Teil meiner Identität, meiner Kultur und meiner Geschichte», antwortet Daddy auf die Frage, weshalb er sich für eben dieses Motiv entschieden habe. Ferner verrät er uns, dass er das Tattoo als symbolische Verbeugung gegenüber der Liebe zwischen Butches und Femmes verstehe, und erklärt, weshalb für ihn klar war, dass Orne dieses – neben dem offensichtlichen Grund ihres Könnens und Talents – umsetzen sollte: «Als queere trans Person möchte ich, dass es der Kunst und den Dienstleistungen anderer queerer Menschen zugutekommt, wenn ich Geld ausgebe.»
Daddy Dykes Lieblingstattoo ist ebenfalls Orne zu verdanken. «Ein Panther, der ein altes, eher weibliches Tattoo überdeckt», sagt er. Mit dem Tier assoziiere Daddy eine maskuline Aura. Als die Raubkatze schlussendlich das Vorgängertattoo coverte, sei dies einem Akt der Geschlechtsbefreiung gleichgekommen, erinnert sich der Stripper. «Es ist immer ein Vergnügen, mit Daddy zu arbeiten», ergänzt Orne. «Die Sitzungen sind im Allgemeinen sehr entspannt, wir sprechen über unseren Alltag, Neuigkeiten, zukünftige Projekte und wie wir uns gegenseitig helfen können, als Künstler*innen weiter zu wachsen.»
Lust und Schmerz Wer sich nun wundert, wie man eine Tätigkeit ausüben kann, die andere zum Bluten und zum Zusammenzucken bringt, dem sei entgegnet, dass Tätowieren nicht zwangsläufig etwas mit Sadismus zu tun haben muss. Für Orne Gil steht zum Beispiel neben der Funktion, Erfüllerin der Wünsche ihrer Klient*innen zu sein, auch die ständige Suche nach der Perfektionierung ihrer Fähigkeiten im Vordergrund. «Es gibt immer neue Möglichkeiten, es besser zu machen. Das kann durch eigene Erfahrungen geschehen, durch neue Technologien, Forschung oder den Austausch mit Kolleg*innen.»
Wenn man auf die eine oder andere Weise für etwas geboren ist, wird es irgendwann zu einem kommen
Seit Orne ein kleines Mädchen gewesen sei, habe sie immer Kunst studieren wollen. Aufgrund fehlender Unterstützung seitens der Familie entschied sie sich dann aber für Politikwissenschaften. Der Gedanke, sich künstlerisch austoben zu können, liess sie jedoch nie von ihr ab. «Wenn man auf die eine oder andere Weise für etwas geboren ist, wird es irgendwann zu einem kommen. Zumindest glaube ich daran. Ab dem Moment, als ich 2012 in Italien mit dem Tätowieren begann, konnte ich nicht mehr aufhören.»
Wie ist es nun aber, mit schneidend-kratzenden Gerätschaften in die Haut von Menschen zu fahren? Orne betrachtet das mittlerweile recht nüchtern. «Das ist etwas, das ich derart verinnerlicht habe, dass ich mich nicht mehr daran erinnern kann, was meine ersten Empfindungen waren», erklärt sie. Sie habe nie Angst davor gehabt, denn am Ende bereite es ihr viel zu viel Vergnügen, eine leere Leinwand mit einem Werk, das bleibe, zu füllen.
Auf den Geschmack gekommen? Es gibt noch einiges zu tun für Orne und ihresgleichen. Täglich suchen neue Interessierte nach Möglichkeiten, die Ideen in ihrem Kopf auf dem eigenen Körper verewigen zu lassen. Ob im geschützten LGBTIQ-freundlichen Rahmen oder einem anderen Kontext, bevor man sich für ein Tattoo entscheidet, sollte man den ein oder anderen Gedanken durchdacht haben. «Ich glaube, das Wichtigste ist, dass man sich für einen Stil entscheidet, der einem gefällt, und dann kann man nach Künstler*innen suchen, mit denen man sich wohlfühlt. Abgesehen von technischen Aspekten ist das meiner Meinung nach am wichtigsten», rät Orne. Sie selbst tätowiere gern mit dicken Linien und kräftigen Schwarztönen, da sie sich so dem traditionellen Handwerk des Tätowierens am nächsten fühle. Was die Motive betrifft, stünden bei ihr vor allem erotische Momente, die in der heteropatriarchalischen Gesellschaft selten vorkommen, auf dem Programm. «Eines meiner Lieblingsstücke aus der Queer-Erotik ist ein Rückenbild von zwei schlafenden nackten Mädchen, die sich umarmen», gibt Orne preis.
«Ich habe mich im Vorhinein mit den üblichen Dingen beschäftigt. Zum Beispiel mit der Frage, ob mein Tattoo einen Sinn haben muss, wenn ich es für immer an meinem Körper trage. Aber Bedeutungen oder der Bezug zu diesen können sich verändern, wie das Bild zeigt, das ich mit dem Panter überdecken liess. Jetzt greife ich lieber zu solchen Motiven, die mich heisser aussehen lassen», witzelt Daddy Dyke.
Los geht’s! Es ist meist eine sehr individuelle Angelegenheit, wie man zu einem Tattoo kommt. Ob es einer Schnapsidee mit Freund*innen zu verdanken ist, einem langewährenden mentalen Prozess oder der impulsgesteuerten Faszination für eine*n bestimmte*n Artist, dessen Werke man bewundert – am Ende zählt, dass man glücklich mit dem ist, was einen fortan tagtäglich begleitet. Sollte dies nicht der Fall sein, gibt es die Möglichkeit, mithilfe moderner Methoden die eingravierten Linien wieder unsichtbar werden zu lassen.
Nowhereland Tattoo und vergleichbare Projekte bieten jedenfalls die Chance, sich beim intimen Moment des Tätowiertwerdens auch als queerer Mensch vollends fallen zu lassen. Mal abgesehen vom ganz persönlichen Schmerzempfinden.
Nicht erst seit gestern Forscher*innen gehen davon aus, dass Tätowierungen die Menschheitsgeschichte mindestens seit der späten Jungsteinzeit, also seit über 5300 Jahren, begleiten. Prominentestes Beispiel: Der Ötzi, eine Gletschermumie, die in den Südtiroler Alpen entdeckt wurde und deren Körper von 61 geometrischen Formen geziert wird.
Im Laufe der Zeit und je nach kulturellem Bezug lassen sich den bleibenden Körperbemalungen unterschiedlichste Funktionen zuordnen. So signalisieren sie beispielsweise die Zugehörigkeit zu Gruppen und Vereinigungen, dienen als Schmuck oder wurden in dunklen Kapiteln wie dem Nationalsozialismus als Zeichen der Grausamkeit missbraucht, indem Juden nach ihrer Gefangenname im Konzentrationslager Auschwitz Nummern auf die Arme tätowiert bekamen, die fortan als Namensersatz dienen sollten und den dahinterstehenden Gesichtern und Schicksalen ihre Würde raubten.
Heute sehen Sozialwissenschaftler*innen und Psycholog*innen in der Entscheidung, sich ein Tattoo stechen lassen zu wollen, vor allem die Tendenz, sich damit individualisieren und von anderen abgrenzen zu wollen. Ein Drang, der moderne Gesellschaften durchzieht wie ein roter Faden.
Früher war das anders. Tattoos galten besonders im letzten Jahrhundert als Symbole für einen niedrigen sozialen Status und wurden mit kriminellen oder frivolen Attributen verknüpft. Zumindest in Europa und anderen westlich geprägten Teilen der Erde. Erst in den Neunzigern kam es zu einem Umdenken, als die Jugendkultur Tattoos als Protestbilder auserkor, um damit gegen verstaubte Werte und Normen zu rebellieren. Plötzlich waren die gestochenen Linien und Flächen in der Mitte der Gesellschaft angekommen, wenngleich auch 2023 noch viele konservativ geprägte Chef*innen darauf bestehen, Tattoos während der Arbeit abzudecken. Könne es sonst schliesslich zu vermeintlichen Imageschädigungen eines Betriebs, einer Einrichtung oder gar eines ganzen Berufsstands kommen. Denn nach wie vor werden besagte Stereotype aktiviert, wenn sich ein Tattoo am Arm, Bein, Torso oder gar im Gesicht eines Polizisten oder einer Ärztin zeigt.
Buchtipp: «Queer Tattoo»
Willst du tiefer in das Thema queere Tattoos eintauchen? Das Buch «Queer Tattoo» stellt die lebendige und vielfältige queere Tattoo-Community umfassend vor. Präsentiert werden 50 internationale Tattoo-Künstler*innen, die durch umfangreiche Porträts, Texte und Bildstrecken eingeführt werden.
1 von gängigen Körpervorstellungen abweichend
2 Butch und Femme werden als Begriffe verwendet, um ein erotisch konnotiertes Begehren zwischen nicht-heterosexueller Femininität und Maskulinität zu kennzeichnen
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