Sechs Monate Ukraine-Krieg: «Die Energie geht zur Neige»
Ein schwuler Kriegsveteran zieht Bilanz
Nach einem halben Jahr Krieg hat die Ukraine die Todesopfer in den eigenen Reihen auf annähernd 9000 Soldaten beziffert. Das sagte der Oberkommandierende der Armee, Walerij Saluschnyj, am Montag der Nachrichtenagentur Interfax-Ukrajina.
Beobachter*innen gehen mit Blick auf frühere Äusserungen aus Kiew allerdings von deutlich höheren Todeszahlen aus. Im Juli hatte Präsident Wolodymyr Selenskyj erklärt, er habe bereits mehr als 3500 Soldaten posthum Auszeichnungen verliehen. Zuvor hatte einer seiner Berater, Olexij Arestowytsch, die Zahl der Todesopfer auf ukrainischer Seite schon mit «bis zu 10’000» angegeben. Bei den russischen Streitkräften soll es nach ukrainischen Angaben schon mehr als 45’000 Tote geben.
Viktor Pylypenko kämpft in diesem Krieg für seine Heimat. Er hat im Jahr 2018 die «Vereinigung von LGBT-Soldaten, Veteranen und Freiwilligen» gegründet und gilt als erster offen schwuler Kriegsveteran der Ukraine (MANNSCHAFT+) Mit ihm sprachen wir kurz vor dem Einmarsch Russlands am 24. Februar (MANNSCHAFT+). Nun baten wir ihn, nach sechs Monaten Krieg Bilanz zu ziehen: Seine Wut auf die internationale Politik, nicht zuletzt auf die Merkel-Jahre in Deutschland, ist gross, das Vertrauen in westliche Politiker*innen gering: Er wirft ihnen Korruption vor.
Der Soldat bittet uns, seine Kameraden auf den Fotos unkenntlich zu machen, die er uns überlässt, da die russische Propaganda seine Bilder gerne nutze. Namentlich nennt er die russische TV-Moderatorin und Propagandistin Olga Skabejewa, die alle um ihn herum «ukrainische schwule Soldaten» nenne und seine Homosexualität ins Lächerliche ziehe
Viktor, du postest immer wieder Fotos und Updates aus dem Krieg. Hast du nie Probleme mit dem Internet? Wir nutzen Starlink, das von dem US-Raumfahrtunternehmen SpaceX betriebene Satellitennetzwerk, das Elon Musk dem ukrainischen Militär gewährt hat. In der Diaspora gibt es auch Starlink-Antennen. Ausserdem helfen Freiwillige dabei, Geld zu sammeln, um jeden Monat Starlink für militärische Einheiten zu bezahlen.
Aber ich habe nicht immer Verbindung, besonders wenn ich in Schützengräben bin, so wie andere Soldaten. Das sind Zeiten, die für meine Liebsten wirklich Stress bedeuten, weil sie nicht wissen, ob ich noch lebe oder nicht.
Wie geht es dir? Hast du noch Energie oder denkst du manchmal darüber nach, einfach wegzulaufen? Glaubst du, du kannst sechs weitere Monate kämpfen – oder sogar länger? Die Energie geht zur Neige. Ich denke nicht daran, wegzulaufen. Ich warte nur auf mehr Unterstützung von den EU-Ländern und der NATO, um diesen Orwell’schen Albtraum von 1984, das Massaker an Zivilisten, so schnell wie möglich zu beenden. Ich werde auf keinen Fall zulassen, dass der Krieg weitere acht Jahre dauert.
Hast du Menschen verloren, die dir nahe stehen? Vor kurzem habe ich meinen besten Freund verloren. Er wurde von einer russischen Rakete getötet, die ein dreistöckiges Gebäude traf, in dem er Deckung suchte. Ausserdem verlor ich zwei weitere enge Freunde, die aus Frankreich und Polen zurückgekehrt waren, um die Ukraine zu verteidigen. Ich habe auch Freunde in Mariupol verloren bzw. weiss nicht, ob sie noch leben.
Als Leiter der LGBTIQ-Menschenrechtsorganisation des Militärs befasse ich mich auch mit Fällen, in denen unsere Mitglieder in Kämpfen getötet, gefangen genommen oder im Einsatz vermisst werden. Es ist furchtbar. Besonders schrecklich ist es, ihren Verwandten, Partnern, Ehemännern und Ehefrauen in die Augen zu sehen. Zwei Witwen gehören jetzt zu meinen engen Freunden. Sie befinden sich im Wohnort meiner Eltern, die Freiwilligeninitiativen gestartet haben, um denen zu helfen, die unter dem Krieg gelitten haben, um die Leere zu füllen, die nach dem Verlust ihrer Ehemänner entstanden ist.
Spielt es im Krieg irgendeine Rolle, dass du schwul bist? Ich bin in meiner Einheit offen schwul. Jeder weiss es und verteidigt mich, wenn jemand versucht, sich darüber lustig zu machen, was hier ziemlich selten vorkommt. Es gab einen Homophoben, der sich weigerte, mit mir zu kommunizieren, weil ich schwul bin. Er weigerte sich auch, von mir seine Notfallausrüstung überprüfen und mit Medikamenten füllen zu lassen. Kürzlich wurde er im Kampf getötet. Was ich bedauere. Wer weiss, vielleicht hätte ihm eine komplette medizinische Ausrüstung geholfen zu überleben.
Ich mache den anderen Jungs gerne Komplimente, wie süss sie sind oder wie gross ihre Genitalien sind, dann werden sie rot.
Die meisten Jungs scherzen einfach gerne mit mir über ein schwules Thema, wir simulieren schwulen Sex, einfach so zum Spass. Ich mache den anderen Jungs gerne Komplimente, wie süss sie sind oder wie gross ihre Genitalien sind, dann werden sie rot. Alle unterstützen mich ziemlich. Ein Freund von mir malte sogar einen Regenbogen mit einem Totenkopf auf die Türen zum Sanitätspunkt.
Ein anderer verteidigte mich neulich und nannte einen homophoben Neuankömmling einen Idioten, weil er mich eine Schwuchtel nannte, aber es nicht einmal mir ins Gesicht sagte.
Gibt es etwas, das du im Krieg gelernt hast? Ja, ich habe gelernt, dass man sein Leben in Sekunden verlieren kann, und ich habe erkannt, dass russische Bestechungsgelder sehr mächtig sind und Völkermorde und Massaker in sauberen und ordentlichen Kabinetten europäischer Beamter rechtfertigen können.
Hättest du beim Einmarsch vor einem halben Jahr gedacht, dass der Krieg so lange dauern würde? Mal abgesehen davon, dass er schon 2014 mit der Einnahme der Krim begann. Nein, ich dachte, wir wären in zwei Wochen fertig und würden die besetzten Gebiete zurückbekommen. Die Streitkräfte und Freiwilligenbataillone der Ukraine kämpften erfolgreich, aber offizielle russische Truppen drangen in unser Land ein und eroberten Freiwilligenbataillone, etwa 2014 in der Schlacht um Illovaysk, bei der viele Soldaten getötet und gefangen genommen wurden. Denjenigen, die überlebten, wurde damals von russischen Offizieren ein «grüner Korridor» gewährt. Als ukrainische Truppen diesen Korridor bildeten und mit Fahrzeugen herausfuhren, eröffneten die Russen das Panzerfeuer und zerstörten die Kolonne vollständig. Zeugen und Aussagen von Überlebenden dazu findet man überall (etwa in diesem Bericht der Kyiv Post).
Damals kamen «Europäische Diplomaten», darunter Angela Merkel und Steinmeier. Ihre Überwachungsmissionen hatten ein Ziel – die Ukraine daran zu hindern, unsere Gebiete zu befreien, jede militärische Unterstützung durch die EU und andere Länder zu verhindern, die russische hybride Kriegsführung als «Bürgerkonflikt in der Ukraine» zu bezeichnen. Merkel drängte die ukrainische Regierung, mit Terroristen zu kommunizieren. Sie und Steinmeier wollten damals nicht mit Putin streiten oder der Ukraine helfen.
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