Zürich: Tilda Swinton über eine Zukunft ohne Identitätsschranken
Ihr war die Retrospektive des Filmpodium gewidmet
Am 31. Mai beehrte die schottische Schauspielerin Tilda Swinton das Filmpodium Zürich. Dort sprach sie, zum Abschluss der ihr gewidmeten Retrospektive, über androgyne Farben, genderneutrale Toiletten und die Grenzüberschreitung.
Von Sarah Stutte
Tilda Swinton hautnah – darauf freuten sich nicht nur die knapp 260 Besucher*innen, die sich in einem vorgängigen Sturm auf das Online-System des Kinos Filmpodium ein Ticket für diesen Abend sichern konnten. Auch die offen lesbische Zürcher Stadtpräsidentin Corine Mauch, die sich als grosser Fan der schottischen Ausnahmeschauspielerin outete, zählte sich zu diesen «wenigen Glücklichen» und war deswegen so aufgeregt, dass sie zur Begrüssung gar ihre Zettel fallen liess. Das Publikum war von Alt bis Jung bunt durchmischt, mit einem auffälligen Anteil genderqueerer Film-Aficionados. Als dann Tilda Swinton in Sommerfarben – gelber Hosenanzug und blonde Kurzschnitt-Haarpracht – plötzlich durch den Seiteneingang rauschte, brandete minutenlanger Jubel auf.
Die 61-jährige Oscarpreisträgerin, die sich 2021 als queer geoutet hatte (MANNSCHAFT berichtete), hatte direkt vom Filmfestival in den Cannes den Flieger nach Zürich genommen. Anlass war der Abschluss der Retrospektive, die das Filmpodium ihr im Vorfeld gewidmet hatte. Einen ganzen Monat lang zeigte das Kino im Mai unter dem Motto «Furchtlose Gestaltwandlerin» ihre Filme. Bei der Auswahl wurden unter anderem Swintons Anfänge wie «Caravaggio» (1986) und «Edward II» (1992) berücksichtigt. Beide Filme, in denen Homosexualität ein Thema war, realisierte sie mit dem britischen Regisseur Derek Jarman, der 1994 an AIDS starb. Daneben war sie in Werken zu sehen, in denen sie in ihren Rollen die Geschlechtergrenzen auflöste, von «Man to Man» (1991) bis zu «Orlando» (1992).
Abgerundet wurde der Swinton-Monat auch durch eine parallel laufende Ausstellung im Fotomuseum Winterthur. Diese wurde von der Schauspielerin kuratiert und setzte sich mit der Konstruktion von Identität sowie der Repräsentation marginalisierter Communitys und alternativer Lebensentwürfe auseinander. Die Ausstellung trug passenderweise den Namen «Orlando», weil sie sich auf den gleichnamigen Roman von Virginia Woolf aus dem Jahr 1928 beruft, genauso wie der Film der Regisseurin Sally Porter, in dem Tilda Swinton die Hauptrolle spielte. «Ich habe das Buch gelesen, als ich 13 war und ich habe es geliebt», sagte sie.
Die Idee darin, sich vollständig von den Konstruktionen des Geschlechts oder sozialer Normen zu befreien, gehe weit über das Buch hinaus. «Ich glaube, dass Virginia Woolf dabei an einem Gefühl von Freiheit und Grenzenlosigkeit interessiert war. Das war uns auch für den Film wichtig. Nicht dieser Mensch passt sich der Welt an, sondern die Welt muss sich ihm anpassen». Heute, fuhr sie fort, müsse man darüber nicht mehr endlos diskutieren. Da gäbe es genderneutrale Toiletten, über die sie sich freue. Da wachse eine Generation auf, denen keine Identitätsschranken mehr auferlegt würden.
Tilda Swinton als Schwester im Geiste Das Auflösen der Grenzen sei nicht etwas, was sie für den Film erfinde, sondern was sie lebe. Schon früh hätte sie das Gefühl gehabt, queer zu sein. Für sie habe der Begriff etwas mit Sensibilität zu tun. Also habe sie Menschen gesucht, die sie verstehen konnten und in ihnen ihre Filmfamilie gefunden. Wes Anderson, Bong Joon-ho, Jim Jarmusch, Luca Guadagnino, Lynne Ramsay, Joanna Hogg gehörten dazu. Letztere bezeichnete Swinton als ihre Schwester im Geiste, die Person, die sie schon am längsten kennen würde. Auch Derek Jarman, dessen Tod sie tief erschüttert habe, zählte zu diesem engen Kreis. Für ihn sei sie eine androgyne Farbe gewesen, mit der er malen konnte.
Am Ende des Abends erfüllte sich auch der anfangs geäusserte Wunsch der Zürcher Stadtpräsidentin. Corine Mauch hatte den Begriff «swintonism» ins Spiel gebracht. Von dieser Strahlkraft der Schauspielerin wünsche sie sich mehr für alle. Davon eingehüllt wurden die Zuschauer*innen in die Nacht entlassen oder ins Foyer, wo Tilda Swinton noch fleissig Autogramme gab und Fotos mit sich machen liess, bis sie eins wurde mit der Menge und die Grenzen wiederum verschwammen.
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