«Dem Verfall europäischer Grundwerte in Ungarn nicht tatenlos zusehen!»
Der Samstagskommentar kommt diesmal von der trans Landtagsabgeordneten Tessa Ganserer aus Bayern
Im ungarischen Parlament hat die rechtsnationale Regierungsmehrheit aus Fidesz und Christdemokraten diese Woche ein Gesetz (Artikel 33) verabschiedet, nach dem beim Standesamt künftig nur noch das «Geschlecht zur Geburt» erfasst werden soll (MANNSCHAFT berichtete). Vorname und Geschlechtsangabe sind damit nicht mehr änderbar. Dazu unser Gast-Samstagskommentar* von Tessa Ganserer (Grüne) aus Bayern: Sie ist die erste und einzige trans Abgeordnete eines Parlaments in Europa und sieht einen möglichen Hebel bei den Wirtschaftsbeziehungen zu Ungarn.
Künftig wird in Ungarn nur noch das «Geschlecht zur Geburt» – definiert als «das biologische Geschlecht», das sich «durch primäre geschlechtliche Merkmale und Chromosomen bestimmt» – erfasst. Dieses Gesetz ist ein klarer Verstoss gegen die am 17. Juni 2011 vom Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen in Genf verabschiedete Resolution 17/19 über «Menschenrechte, sexuelle Orientierung und Geschlechteridentität» und damit auch gegen die Europäische Menschenrechtskonvention. Es tritt die Menschenrechte von trans- und intergeschlechtlichen Menschen mit Füssen.
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Neben dem Protest von ILGA Europe und zahlreichen weiteren LGBTIQ-Organisationen liessen auch die internationalen offiziellen Schreiben von Vertreter*innen der Vereinten Nationen, des Europarats und der EU die Rechtsnationalen in Ungarn unbeeindruckt. Daraus den Schluss zu ziehen, die EU wäre machtlos, wäre jedoch grundverkehrt und brandgefährlich. Europas Mühlen mahlen gründlich, aber langsam. Es ist davon auszugehen, dass dieses neue Gesetz vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte keinen Bestand haben wird, zumal das Strassburger Gericht bereits in mehreren Urteilen die Rechte von trans Personen mit Verweis auf die Europäische Menschenrechtskonvention verteidigt hat. Doch der Rechtsweg dauert Jahre.
Die Europäische Kommission als Hüterin der europäischen Verträge leitet fast monatlich und wegen viel geringerer Vertragsverletzungen Verfahren gegen Mitgliedstaaten ein, wenn geltende EU-Vorschriften nicht eingehalten werden. Drohende Strafzahlungen sind ein sehr starkes Argument, um Nationalstaaten zum Handeln zu bewegen. Doch auch diese Verfahren dauern viel zu lange.
Wir brauchen nicht weniger, sondern mehr Europa! Denn bis zu einem Urteilsspruch müssen sich trans Personen auf Grundlage des neuen Gesetzes permanent zwangsweise outen, was eine Zunahme von Diskriminierung und Gewalt erwarten lässt. Auf europäischer Ebene müssen neue Instrumente zur Achtung der EU-Werte und Sanktionsmöglichkeiten gefunden werden, die dem Ernst der Lage entsprechen. So müssten Auszahlungen von EU-Mitteln direkt an Rechtsstaatlichkeit und Demokratie der Mitgliedstaaten gekoppelt werden. Wir brauchen in dieser Situation nicht weniger, sondern mehr Europa, denn wer sonst sollte Despoten wie Orbán die Stirn bieten.
Hier zeigte Tessa Ganserer vor der Verabschiedung des Gesetzes, was sie von Artikel 33 hält:
Deutschland und Bayern dürfen zum Abbau demokratischer Grundwerte nicht schweigen! Als Land, das viele zivilgesellschaftliche und kulturelle Beziehungen zu seinen Nachbarn pflegt, als Wirtschaftsstandort, der vom Export seiner Güter lebt und als wichtiger Handelspartner von Ungarn, haben wir eine besondere Verantwortung, der wir jetzt gerecht werden müssen. Über 1.578 bayerische Unternehmen unterhalten Geschäftsbeziehungen nach Ungarn. Darunter grosse in Bayern ansässige Unternehmen wie BMW, BayWa, MAN, Siemens, Krones und Adidas. Mehr als 30 Prozent der deutschen Investitionen in Ungarn kommen aus Bayern.
Wir müssen jetzt auf diese Unternehmen einwirken, dass diese Verantwortung übernehmen und die Einhaltung von Rechtsstaatlichkeit und Demokratie zur Voraussetzung für Handel und Investitionen in Ungarn machen. Die Bayerische Staatsregierung ist jetzt gefordert. Sie muss gegenüber der ungarischen Regierung deutlich zum Ausdruck bringen, dass Rechtsstaatlichkeit und Demokratie Grundlage für die engen Handelsbeziehungen zwischen Bayern und Ungarn sind. So könnte die Staatsregierung die Einhaltung dieser Werte zur Voraussetzung für die Absicherung von Auslandsinvestitionen bayerischer Unternehmen durch bayerische Steuergelder über die LfA Förderbank Bayern machen.
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Dieses neue Gesetz der von Ministerpräsident Viktor Orbán angeführten LGBTI-feindlichen Regierung stellt aber neben vielen weiteren problematischen Gesetzen und Massnahmen zur Einschränkung der Meinungs-, Forschungs- und Versammlungsfreiheit nur einen weiteren Schritt in Ungarns Abschied von Rechtsstaat und Demokratie dar. Trans und intergeschlechtliche Personen in Ungarn brauchen jetzt unsere Solidarität.
Europa beruht auf dem Versprechen von Menschenrechten, Gleichheit, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und bürgerlichen Freiheiten. Wir alle tragen Verantwortung, diese Werte nach innen wie nach aussen zu verteidigen. Dem bedrohlichen Verfall der europäischen Grundwerte in Ungarn dürfen wir nicht tatenlos zusehen.
*Jeden Samstag veröffentlichen wir auf MANNSCHAFT.com einen Kommentar zu einem aktuellen Thema, das die LGBTIQ-Community bewegt. Die Meinung der Autor*innen spiegelt nicht zwangsläufig die Meinung der Redaktion wider.
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