Queere Machos, Sexarbeit und die Mafia – der neue schwule «Tatort»!
Interview mit dem deutsch-türkischen Drehbuchautor Erol Yesilkaya über «Das Opfer»
Zum 4. Advent zeigt die ARD einen ungewöhnlichen «Tatort»: Kommissar Karow (Mark Waschke) ermittelt diesmal solo, und es gibt eine dreifache schwule Liebesgeschichte, die teils im türkischen Clan-Milieu spielt. MANNSCHAFT sprach mit dem preisgekrönten Drehbuchautor Erol Yesilkaya.
Erol Yesilkaya ist ein deutsch-türkischer Drehbuchautor, Creator/Schöpfer, Showrunner und Produzent. Er studierte Neuere Deutsche Literatur und Medienwissenschaft. Seine Werke «Tatort: Die Wahrheit», «Tatort: Es lebe der Tod» und «Tatort: Das Nest» wurden unter anderem für den Deutschen Fernsehkrimipreis nominiert, sein «Tatort: Meta» erhielt den renommierten Grimme-Preis.
Darüber hinaus hat Yesilkaya auch Drehbücher für populäre Drama- und Fernsehserien wie «Dogs of Berlin», «Sløborn», «Souls» und «Hausen» geschrieben. 2021 wurde die Amazon-Original-Serie «Der Greif», die von Yesilkaya kreiert und geschrieben wurde und auf dem Fantasy-Bestseller basiert, mit Yesilkaya und Sebastian Marka als Showrunner gedreht.
Wegen seiner «Tatort»-Geschichten gibt es immer wieder Aufregung und teils sogar Morddrohungen wegen erzürnter Zuschauer*innen.
Herr Yesilkaya, Sie haben kürzlich bei der Kinopremiere von «Das Opfer» gesagt, dieser «Tatort»-Fall basiere auf einer wahren Begebenheit (MANNSCHAFT berichtete). Wo bzw. wie haben Sie die den Fall denn entdeckt und worum ging es konkret? Ich wurde vor fünf oder sechs Jahren von Produzent Malte Can auf einen realen Fall aufmerksam gemacht, bei dem ein Mann auf dieselbe Art ums Leben kam, wie die Figur des Maik Balthasar in unserem Film (ich versuche natürlich ohne Spoiler darüber zu sprechen). Balthasars Tod ist inspiriert von wahren Begebenheiten. Ansonsten gibt es keinerlei Ähnlichkeiten zu unserem Film.
Maik Balthasar (gespielt von Andreas Pietschmann) wird tot aufgefunden: Gesicht um den Mund herum aufgeschlitzt, Schuss in den Kopf. «Eine klassische Milieu-Hinrichtung», heisst es. Welche Klischees wollten Sie mit Ihrem Drehbuch aufbrechen? Mir ging es in erster Linie weniger darum Klischees aufzubrechen. Ich mag Klischees in gewisser Weise sogar ganz gerne. Sie helfen dem Zuschauer eine eindeutige Haltung zum Film und den Charakteren zu entwickeln. Wenn man diese eindeutige Haltung dann einmal etabliert hat, macht es tatsächlich grossen Spass mit den Erwartungen des Publikums zu spielen.
Im Fall von «Das Opfer» konnte man dadurch dem Zuschauer recht subtil zeigen, dass die eigene Weltsicht in Bezug auf Ethnien und sexuelle Ausrichtungen manchmal falsch sein kann. Ich versuche aber immer einen Film aus meinen Figuren heraus zu erzählen.
Im Kern des Films steht ja eine Liebesgeschichte. Und von dem Thema Liebe ausgehend war es nahliegend auch in der Mafia-Storyline mit diesen Elementen zu arbeiten. Es ist wirklich gar nicht so leicht konkret über den Film zu sprechen, ohne etwas zu verraten. (lacht)
Ihre Geschichte dreht sich um eine türkische Familie im Wedding. Sind solche konservativen Familienmodelle, wie man sie in «Das Opfer» sieht, dort nach wie vor präsent? Bei Familien, die teils schon in 3. Generation in Deutschland leben? Sehen Sie da keine Veränderungen bei Jüngeren? Der Fokus sollte nicht so sehr auf der türkischen Familie im Wedding liegen, als auf der Genre-Konvention «Mafia-Familie» im Allgemeinen. Solche mafiösen Strukturen sind meist patriarchal und mit viel Machismo aufgebaut – und zwar nicht nur in türkischen oder arabischen Clans. Das dürfte auch bei der Cosa Nostra ähnlich sein. Dass es sich hier um die türkische Mafia handelt, liegt natürlich daran, dass ich die Sprache und bestimmte Eigenheiten aus dem Kulturkreis persönlich kenne und diese daher besser schreiben kann.
Ich hoffe, dass man die Familie Günes nicht als Verallgemeinerung für eine türkische Familie im Wedding 2022 missversteht. Das wäre auf jeden Fall nicht meine Intention gewesen. Türkische Figuren sind in diesem Film ja auch nicht nur Gangster – es gibt genauso einen türkischen Polizisten und den türkischen Besitzer des weltbesten Berliner Döner-Tatoo-Shops.
Was ist Ihr persönlicher Bezug zu all dem? Mein persönlicher Bezug liegt in der Figur des Robert Karow. Ich hatte Karow im «Tatort: Meta» schon einmal geschrieben und eine sehr seltsame, einerseits toughe und gradlinige, andererseits eine sehr einsame und verletzte Figur vorgefunden und mich immer gefragt, was dieser Mensch wohl für eine Vergangenheit gehabt hat. Wie gesagt versuche ich immer aus meinen Figuren heraus zu denken und mich in diese hineinzuversetzen, und so hat mir die Figur Karow quasi ihre eigene Geschichte fast schon diktiert. Das hört sich vielleicht etwas esoterisch und kitschig an, aber in diesem Fall war es wirklich so.
Trotzdem ist es auch kein Zufall, dass ich über die türkische Mafia geschrieben habe und nicht etwa über die Yakuza. Natürlich kenne ich mich da durch meine Herkunft etwas besser aus – die Sprache, Familienstrukturen, das Essen, der Humor usw.
Der Sender RBB hat mitgeteilt, dass man für die Besetzung der entsprechenden Rollen Darstellende mit türkischen Wurzeln gesucht habe. Was für Feedback haben Sie von denen auf Ihr Drehbuch bekommen? Gab’s Leute, die das nicht spielen wollten, eine schwule Liebesgeschichte? Da sollten Sie unbedingt den Regisseur Stefan Schaller fragen, der viel enger mit den Schauspielenden zusammen gearbeitet hat als ich. Das Feedback, das ich zum Drehbuch bekommen habe, war zwar immer sehr positiv, aber trotzdem weiss ich, dass es nicht immer leicht war bestimmte Rollen zu besetzen – auch hier fällt es mir schwer darüber konkret zu sprechen, ohne die Handlung zu spoilern.
Als eine Moschee in Berlin im Sommer eine Regenbogenfahne hisste, gab es massive Proteste und Morddrohungen (MANNSCHAFT berichtete). Kann man über solche Sachverhalte offen reden, ohne gleich den Vorwurf hören zu müssen, man sei rassistisch oder islamophob? Ich glaube, durch den Filter des Genrefilms kann man ziemlich frei über Themen wie Gender, Herkunft, Kulturkreis und Diversity sprechen. «Das Opfer» ist einerseits ja ein Film, der seine progressive Gesinnung und seine Message von Offenheit und Toleranz extrem deutlich vor sich her trägt – andererseits ist es aber auch ein sauspannender, kreuzbrutaler Neo-Noir-Thriller, der durch seine Genreelemente dem Zuschauer immer wieder verdeutlicht: «Leute ich bin nur ein Film, entspannt euch, haltet die Klappe, schaut einfach zu und habt ein wenig Spass.» Ob es dann Proteste und Morddrohungen gibt, sehen wir, wenn der Film ausgestrahlt ist.
«Das Opfer» erzählt auch die Geschichte vom jungen Karow und seiner Liebe zu Nachbarsjungen Maik. Es geht auch um die Reaktion von Karows Vater, der als scheinbar weltoffener weisser Mann mit christlichem Hintergrund ebenfalls ablehnend reagiert auf die Homosexualität seines Sohnes. Es erschien aus der Figur Karow heraus sinnvoll und dramatisch, seine Geschichte so zu erzählen, wie wir es getan haben. Ich bin im Drehbuch erstmal nur der Frage gefolgt, was Karow für eine Vergangenheit hatte. Da Mark Waschke/Robert Karow und ich vom Alter her nicht so weit auseinander liegen, weiss ich, dass in Karows Jugend die Akzeptanz für LGBTIQ in der deutschen Gesellschaft noch deutlich geringer war als heute. Entsprechend lag ein Konflikt zwischen Karow und seinem Vater nahe. Und von diesem Konflikt ausgehend, erschien es wiederum sinnvoll das Thema auf die anderen Charaktere auszuweiten. Die Figuren des Films haben den Schreibprozess quasi bestimmt. Ich habe mich dabei eher wie ein Chronist gefühlt als ein Drehbuchautor.
Welchen Einfluss hatte Mark Waschke auf Ihre Arbeit am Drehbuch? Er war ja Teil der #ActOut-Aktion. (MANNSCHAFT berichtete) Mark ist Robert Karow. Insofern hat er alles beeinflusst. Wir hatten beim «Tatort: Meta» ja schon zusammen gearbeitet, und Marks Darstellkunst war die wichtigste Inspiration für dieses Drehbuch. Es ist ihm quasi auf den Leib geschrieben, und wir haben uns im Vorfeld schon gefreut wieder miteinander arbeiten zu dürfen. Aber aus dem aktiven Schreibprozess hat Mark sich rausgehalten. Nachdem die erste Fassung des Buches da war, haben wir uns nochmal – zusammen mit Regisseur Stefan Schaller und RBB-Redakteurin Verena Veihl – abgestimmt.
Mark Waschkes Darstellkunst war die wichtigste Inspiration für dieses Drehbuch
Sie behandeln zudem das Thema Sexarbeit, mit dem Stricher Sammy, der vom Balkan kommt und Sex mit anderen Männern hat (in einen verliebt er sich auch). Das ist – so kurz vor Weihnachten an einem Sonntagabend – ziemlich ungewöhnlich, auch, dass Sie männliche Sexarbeiter und ihre Not zeigen. Warum war Ihnen das wichtig, da nuanciert ranzugehen? Man versucht im Schreibprozess natürlich immer möglichst nuanciert mit seinen Figuren umzugehen. Manche Autor*innen gehen eher abstrakt und vom Thema her an einen Film heran. Sie betrachten zum Beispiel das Thema Sexarbeit aus einer soziologisch-analytischen Sichtweise heraus und übertragen ihre Erkenntnisse dann auf die Figuren – das tue ich nicht. Ich versuche weder ein Statement für oder gegen Sexarbeit abzugeben, sondern nähere mich der Sache immer erstmal emotional und möglichst subjektiv aus den Figuren heraus. Ich versuche auch so weit wie möglich meine persönlichen moralischen Ansichten zum Thema zu ignorieren.
Mich interessiert im Schreibprozess zuerst die Haltung der spezifischen Figur zu ihrer Arbeit und dann erst der gesellschaftliche Kontext. Entsprechend hat Sammy, der sich als männlicher Escort seine Kunden frei aussuchen konnte, seine Arbeit gemocht – bis zu seinem «Steady Job». Camilla dagegen hat ihren Job nie gerne gemacht, aber immer versucht sich mit der Situation so gut wie möglich zu arrangieren – dank Karow sieht sie die Chance der Mafia zu entkommen und ergreift diese. Das ist aber nicht als Statement für oder gegen Sexarbeit gemeint. Und dass der Film so nah am Weihnachtsabend laufen würde, war bei der Entstehung noch keinem von uns klar, glaube ich. (lacht)
Können Sie sich in Zukunft einen «Tatort» vorstellen – vielleicht auch im Clan-Milieu –, wo die Mitglieder der türkischen oder arabischstämmigen Familien einfach glücklich in gleichgeschlechtlichen Partnerschaften leben, nicht-binär oder trans sind, und niemand sich daran stört? Grundsätzlich kann ich mir das natürlich vorstellen. Und soweit ich weiss, wurde Karow bisher auch noch nicht in einem «Problemkontext» zu seiner Sexualität gezeigt. Unsere Geschichte befasst sich jedoch viel mit der Vergangenheit. Damals in den 1980er bis 90er Jahren herrschte weniger Akzeptanz für gleichgeschlechtliche Liebe und Beziehungen. Dementsprechend erschien es mir sinnvoll einen Konflikt zu erzählen.
Haben Sie eigentlich selbst einen Lieblings-Krimi, der für Sie Vorbildfunktion hat? Der südkoreanische Film «Memories of Murder» ist nahezu perfekt.
Wie wichtig ist für Sie die Repräsentation von queeren Menschen – und in diesem Fall queeren Personen mit Migrationshintergrund – im öffentlich-rechtlichen Rundfunk? Wieso passiert das dort nur so vorsichtig und zögerlich? Manche Geschichten brauchen queere Personen, manche nicht. Manche Geschichten brauchen heterosexuelle Personen, manche Geschichten nicht. Manche Geschichten brauchen Personen mit Migrationshintergrund und manche Geschichten nicht. Gibt es dafür klare Regeln? Gott sei Dank bisher noch nicht. Für mich als Autor ist es eine Gefühlsentscheidung über was und über wen ich schreibe. Ich kenne Menschen der verschiedensten Zugehörigkeiten – sowohl bezüglich Gender, als auch Ethnie – und greife beim Schreiben gerne auf persönliche Erfahrungen zurück. Entsprechend schreibe ich gerne diverse Figuren. Gelegentlich möchte ich aber auch mal einen Film schreiben, der sich dieser Themen komplett entzieht.
Ich möchte nicht gezwungen sein, über türkische oder queere oder heterosexuelle Menschen schreiben zu müssen
Ich finde es extrem gut, dass man immer mehr Shows und Filme sieht, in denen Diversität ganz selbstverständlich thematisiert wird. Trotzdem möchte ich nicht gezwungen sein über türkische oder queere oder heterosexuelle Menschen schreiben zu müssen. Dann entstehen keine ehrlichen Filme. Und nur ehrliche Filme führen zu Akzeptanz und Veränderung beim Publikum. Man kann «Das Opfer» mögen oder auch nicht, aber ich glaube man spürt, dass es emotional ein ehrlicher Film ist. Die Resonanz darauf war dementsprechend bisher überwältigend positiv. Und das macht mich sehr, sehr glücklich.
Erwarten Sie eigentlich irgendeine Form von Aufregung wegen «Das Opfer»? Etwa aus dem Wedding selbst und von Familien dort, die sagen, so was wie mit Mesut Günes gäbe es doch gar nicht, alles nur sensationslüsterne Verdrehung von Realitäten? Ich erwarte beim «Tatort» immer eine Form von Aufregung. Wenn zehn Millionen Menschen sich etwas anschauen, dann hat man es auch mit zehn Millionen unterschiedlichen Meinungen zu tun. Ich hatte das Glück, bisher fast ausnahmslos sehr beliebte Tatorte zu schreiben. Trotzdem gab es immer mal wieder eine Morddrohung oder eine Forderung nach Berufsverbot in den Online-Foren. Erschreckend. Andererseits: wenn von zehn Millionen Menschen mich nur einer umbringen will, dann ist das statistisch gesehen ja eigentlich ein Knaller. Oder? Wir leben in einer seltsam aufgeregten Welt…
«Das Opfer» läuft am 18. Dezember um 20.15 Uhr im Ersten Deutschen Fernsehen, SRF und ORF. Die Sendung ist nach der Ausstrahlung sechs Monate in der ARD-Mediathek verfügbar.
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