Ultimative Diva mit Glamour und Eigensinn: Sven Ratzke spielt «Marlene»
Nach Hedwig und David Bowie nimmt sich der deutsch-niederländische Künstler nun der bisexuellen Ikone an
In einem kleinen Pariser Apartment: Für Marlene Dietrich und ihre langjährige Begleiterin durch die Höhen und Tiefen ihrer legendären Karriere werden vergangene Zeit wieder greifbar und lebendig. Sven Ratzke spielt ab Oktober in Berlin die Titelrolle in «Marlene».
Sven, du hast in den letzten zehn Jahren die Titelrolle in «Hedwig and the Angry Inch» gespielt, hast zwei Programme mit Musik von Bowie auf die Bühne gebracht. Wie kommst du jetzt auf die Dietrich? Naja, das hat natürlich alles miteinander sehr viel zu tun. So unterschiedlich das auch ist, Hedwig, David Bowie oder auch Kurt Weill, das sind halt immer sehr viele Genres, die ich mixe, und im Grunde ist das alles mit Berlin verbunden. Ich glaube ja auch, dass Marlene die Blaupause ist für das, was ich mache und für viele Kollegen wie Georgette Dee und Tim Fischer auch. Sie hatte einen grossen Einfluss als eine Figur, die auch zwischen den Geschlechtern wandelte, die Glamour ausstrahlte, als ultimative Diva mit ihrem Eigensinn und dem absoluten Perfektionismus, und natürlich steht sie für mich auch sehr für die Zwanziger Jahre.
Jetzt sind wir wieder in den Zwanzigern, 100 Jahre später. Die 20er Jahre von Berlin damals, das war eine kurze Zeit von Freiheit. Auf die wir jetzt schauen und manchmal denken, das ist heute ja fast konservativer und strenger geworden. Es werden wieder Bücher verboten, das muss man sich mal vorstellen! Die Geschichte wiederholt sich teilweise. Man wird kritisiert, wenn man anders denkt oder sich anders benimmt. Damals gab es eine grosse Offenheit: Am Kiosk konntest du verschiedene schwule und lesbische Magazine kaufen, sogar pornografische Hefte, was toleriert wurde. Das hat das alles sehr schön nebenher existiert. Heute ist die queere Gesellschaft sehr sichtbar, und das irritiert viele Rechte. Denen macht es immer Angst, wenn jemand anders ist oder frei lebt. Das bedeutet ja auch Queerness.
Marlene ist für mich eine der Figuren, die sich da aufgehalten hat und auch einen Teil dieses Flairs von Berlin weltweit bekannt gemacht hat. Ich denke, sie ist die bekannteste Deutsche überhaupt. Und dann gibt es noch 10 andere Gründe, warum ich Marlene spiele. Zum Beispiel, dass ich sehr gerne mehr Zeit in Berlin verbringen und auch wieder mehr Theater spielen wollte. Ich hab jetzt etwa 10 Jahre die Hedwig gemacht, was mir immer noch nicht langweilig geworden ist. Ich spiele es auch weiter. Aber wir haben das Programm erstmal auf meinen Wunsch zur Seite gestellt, weil es sonst zu viel Charaktere nebeneinander sind. Aber nächstes Jahr kommt sie wieder.
Wer ist die Dietrich für dich? Sie war eine Entertainerin, eine Performerin. Bowie war beeinflusst von ihr. Ja, all die ganzen Pop-Ikonen haben sich irgendwie beeinflussen lassen von ihr, Madonna hatte so eine Dietrich-Phase. Die Dietrich als Figur finde ich wahnsinnig interessant, weil wir auch in einer Zeit leben, die so schnelllebig ist und es immer sehr auf das Äusserliche geht. Sie wird meist in Klischees dargestellt und für mich ist klar: Da steckt doch viel mehr dahinter! Das ist eine Sache, die wir auch anders angehen werden in dieser Produktion – im Vergleich zu der mit Judy Winter, die das Stück jahrelang am Renaissance-Theater gespielt hat. Das war eine grossartige Produktion und ein unglaublicher Erfolg. Das hat mich natürlich auch gereizt: Es war ein Riesenerfolg damals, jetzt kommen wir, und die Leute sagen: «Was macht ihr da jetzt?» Das finde ich ganz spannend, wenn es diese Herausforderung gibt.
Vermutlich gibt es auch Stimmen, die sagen: Wieso spielt denn jetzt ein Mann unsere Marlene? Ich finde, das ist gar nicht mehr angemessen in dieser Zeit. Ich lade diese Leute dann einfach in die Show ein und wenn es sie nicht beeindruckt, ja, das kann natürlich passieren. Ich hab es lieber, dass jemand es hasst und oder es liebt, anstatt dass es egal ist. Aber natürlich bin ich am Bangen vor der Premiere. Man muss immer auch Fragen und Zweifel haben als Darsteller und Künstler, aber das war mit David Bowie auch schon so. Da haben auch viele gesagt: «Du bist ja wahnsinnig! Dann mal viel Glück. Das wird sicher scheitern.»
… und am Ende waren es zwei Programme, die sehr erfolgreich gelaufen sind … Wir finden es auch interessant, zwischen den Geschlechtern zu balancieren und beides zu zeigen. Es hat auch überhaupt nichts mit Travestie zu tun. Es geht um das Innenleben einer Figur und ihrer Geschichte. Da bin ich total dafür, dass jeder das spielen soll, was er denkt, das er spielen will.
Nun bringt Ihr eine bearbeitete «Marlene» auf die Bühne. Ja, die Zeiten sind anders, ich bin ein ganz anderer Darsteller und wir haben das Stück von Pam Gems sehr bearbeitet. Es ist 30 Jahre alt, die Zeiten haben sich sehr geändert. Ich sage immer so als Beispiel: Die Dreigroschenoper kriegt auch alle drei Jahre eine Neuinterpretation, warum nicht auch der Stoff um Marlene Dietrich?
Conny Palmen, die tolle holländische Schriftstellerin, hat neue Texte dazu geschrieben, also Prolog und Epilog. Conny ist eine sehr gute Freundin von mir, wir kennen uns schon sehr viele Jahre, und es war für mich ganz ein logischer Schritt, sie zu fragen. Sie hat so ungefähr dasselbe Alter jetzt wie die Dietrich in dem Stück, als sie wieder nach Berlin kommt. Auch diese Auseinandersetzung mit Ruhm und mit dem Alter, das sind Sachen, die Conny auch sehr beschäftigen, und sie kann wie keine andere diese innerliche Zerrissenheit darstellen. Das sind so wunderschöne, auch literarische Texte.
Auch auf die Kostüme darf man sehr gespannt sein. Die kommen von Max Mara. Ian Griffiths, der Kreativdirektor von Max Mara, hat unglaubliche Kostüme kreiert. Der war ganz begeistert, als ich ihn fragte. «Ich mache schon seit 30 Jahren die Kollektion hier, und meine grössten Inspirationen sind David Bowie und Marlene Dietrich – weil die zwischen den Geschlechtern wandelten. Ich mache was für starke Frauen, Persönlichkeiten wie Cate Blanchett.» Leute wie sie tragen seine Klamotten. Nach unserem Gespräch hat er sofort losgezeichnet und es genau auf den Punkt getroffen.
Reden wir über den Inhalt. Wir gehen in dem Stück nach Paris, also den letzten Lebensabschnitt, was ja in dem Stück ursprünglich gar nicht thematisiert wird. Wir fangen eigentlich dort an, kurz vor ihrem Ende, wo sie 1992 gestorben ist. Ohne dass man sie da grässlich darstellt. Sondern wir gehen von dort aus auf eine Reise als Kopfkino, zurück in der Zeit.
Es geht mir um das Gefühlsleben dieser Frau, die sich irgendwann verloren hat in ihrem eigenen Bild, das sie kreiert hat
Wir gehen ein bisschen weg von dem Stück, wollen auch kein Lookalike schaffen oder sowas Madame-Tussauds-mässig, wo dann jemand auf der Bühne steht, der genau so aussieht und so spricht wie Marlene. Es geht mir mehr um das Gefühlsleben dieser Frau, die sich irgendwann verloren hat in ihrem eigenen Bild, das sie kreiert hat – das fand ich immer sehr interessant. Eine Frau wird eine Ikone und die Frage ist: Wie weit ist man da noch man selbst? Marlene Dietrich war sehr intelligent, nicht irgendwie ein dummes Blondchen, das sich hochgeschlafen hat. Sie hat ja das alles selber kreiert damals. Sie war allerdings eine schlechte Businessfrau, Finanzen waren nicht ihre Stärke. Aber wenn es ums Image ging und um die Ausgestaltung, das war ja alles perfekt.
Die Dietrich war bisexuell und gilt als queere Ikone. Ich glaube schon, die Dietrich war, vielleicht ungewollt, eine Art Vorbild. Nach dem Motto: Ich mache, was ich will, und das ist gut so. Sie hat das ja auch ausgesprochen: «Ich habe Frauen genauso geliebt wie Männer». Oder: «Ich trage jetzt Anzüge». Diese komplette Emanzipation, eigentlich auch ohne Mann durchs Leben zu gehen. Also sie war einmal verheiratet, ansonsten gab es etliche Liebschaften.
Alles zu einer Zeit, als Frauen in Deutschland nichtmal ohne Erlaubnis ihres Mannes arbeiten durften. Ich glaube, das ist immer, was man auch noch mal kurz erklären müsste, was wir diesen historischen Stars zu verdanken haben.
Die Dietrich hatte im Ausland grossen Erfolg, Hildegard Knef ebenso Wie später Romy Schneider oder Ute Lemper nahm man es ihnen hierzulande übel. Man findet internationalen Erfolg in Deutschland immer irgendwie suspekt. Kennst du das auch? Ja, das kenne ich aus den Niederlanden, wo ich Marlene nächstes Jahr dann auch spiele. Man wird für arrogant gehalten. «Wieso machst du das denn jetzt im Ausland und warum nicht hier?», heisst es dann. Oder: «Findest du es hier nicht schön genug?» So was nervt natürlich ein bisschen.
Und mit Berlin ist es so: Das ist auch nicht die einfachste Stadt, aber deswegen auch sehr interessant. Man muss hier manchmal richtig Klartext reden und sagen: Ick liebe Berlin! Und wenn man es gesagt hat, dann ist es auch wieder okay. Ich habe lange gebraucht, meine doppelte Nationalität richtig zu verstehen oder auch einzusetzen und auch dafür einzustehen. Berlin ist einer meiner wichtigsten Orte, ich würde ohne gefühlt gar nicht existieren als Künstler. Und so werde ich auch im Ausland gesehen. Das, was ich mache, das kommt aus Berlin, die Chansons, diese «Kleinkunst», was man international «Cabaret» nennt. Das finde ich ein viel schöneres Wort. «Kleinkunst» macht es immer so klein. Ey, weisst du wieviel Arbeit das ist?! (lacht)
Aber die machst du gerne. Ich mache ja eigentlich nur Sachen, die ich gerne mache. Ich bin ein eigentlich richtig glücklicher Mensch. Mein Weg war lang und Steine lagen überall im Weg. Ich habe ja nie Auditions gemacht. Ich möchte immer gerne meine eigenen Ideen umsetzen und mit tollen Leuten zusammenarbeiten und das mache ich hier auch wieder.
Wie ist denn die musikalische Lage, von Klassikern wie «Sag mir wo die Blumen sind» und «Lilly Marleen» abgesehen? In dem Stück gibt es sehr viele deutsche Lieder, und die singe ich auch auf Deutsch. Das amerikanische Publikum findet das immer wunderbar, das ist so rührend. Nun ist es ein Musiktheater-Abend, der ungefähr zwei Stunden dauert, kein reines Konzert. Von den Songs singe ich immer meine eigenen Versionen. Zum Beispiel: «Ich bin von Kopf bis Fuss auf Liebe eingestellt» singe ich in einer sehr anderen Version und gebe dem Song eine neue Farbe. Es gibt auch ein sehr berührendes Lied in der Vorstellung, das heisst «Mutter». Ein Lied, was kaum jemand kennt und sich damit befasst, dass sie ihre Mutter um Vergebung bittet.
Alle Lieder sind sehr berührend, Sie handeln eigentlich alle von einer Sehnsucht und einem Verlangen, aber sie gibt auch Liebe und Trost. Wie damals den Alliierten. Es ist so eine Mutter-Figur irgendwie, sie hat ja immer alle verarztet und gekocht und geputzt. (lacht).
Was für eine Sehnsucht liest du aus den Songs heraus? Verstanden zu werden, zurückgeliebt zu werden. Auch diese Heimatlosigkeit war ein ganz starkes Thema. Als Frau, die immer auf Reisen war, die eigentlich nie richtig eine Wohnung hatte, also mal kurz in New York, und dann gab es natürlich dieses Apartment in Paris, was sie gemietet hat, das gehörte ihr ja gar nicht, wo sie dann nachher in die Hinterhof-Wohnung gezogen ist, weil die billiger war. Sie hatte nie ein richtiges Zuhause und als sie als Ur-Berlinerin wieder in die Stadt kam, war sie nicht mehr willkommen – das ist natürlich auch ein Thema im Stück. Es sind alles so Grundsehnsüchte: Sehnsucht nach Heimat, Sehnsucht nach Liebe, Sehnsucht nach Verbundenheit. Sie hatte zwar grosse Lieben, aber es war auch immer Drama, mit Jean Gabin, mit Hemingway – das war immer ein Hin und Her.
Ich kenne das von vielen Stars, und ich habe das auch erlebt, das ist dieser Kampf mit der Figur, die du in der Öffentlichkeit oder auf der Bühne darstellst. Und je mehr du das bist, umso mehr verlierst du dich. Madonna ist so ein Beispiel. Die wird jetzt so ausgekotzt von allen, da heisst es: Wie sieht die denn aus, die redet jede zweite Minute nur noch über Sex! Madonna definiert sich über Jugendlichkeit und Attraktivität und über was, dass die Leute verlangen. Und das hat auch sehr viel mit Marlene zu tun. Sie war auch diese Frau, die alle kannten und alle wollten. Das war ja unglaublich, sie betrat den Raum und alle Männer und Frauen waren gebannt. Aber dann kommt das Alter, und du hast dieses Image kreiert und willst es nicht verlieren. Das finde ich wahnsinnig spannend.
«Marlene» feiert am Sonntag, den 8. Oktober um 18:00 Uhr Premiere im Renaissance-Theater Berlin. Danach ist das Stück in den Niederlanden und Belgien zu sehen (Ende Februar bis Ende Mai), gefolgt von New York City im Dezember 2024.
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