Schwul und behindert – und von der Generation Grindr komplett ignoriert?
Die neue Netflix-Serie «Special – Ein besonderes Leben» zeigt, wie Schwulsein in Hollywood zur «Normalität» geworden ist und wie die neuen «Normalen» mit denen umgehen, die «anders» sind
Man muss nicht gleich in die Debatte zur «Opferolympiade» einsteigen, um eine Kernkritik des Queerfeminismus anzuerkennen: dass wir viel zu wenig «intersektional» denken. Das bedeutet, dass Menschen von mehreren Formen der Ausgrenzung betroffen sein können und dass man diese Mehrfachdiskrimierungen zusammendenken sollte. Ein Aspekt dabei ist: Menschen mit Behinderung.
Auch und besonders in der Welt schwuler Medien und schwuler Partykultur wird gern das Image des strahlend schönen, durchtrainierten, jugendlichen Mannes in den Vordergrund gerückt. Schwule, die «alt» sind oder nicht mehr bzw. noch nie diesem hedonistischen Homoideal entsprechen und entsprochen haben, sieht man selten. Und Menschen mit Behinderung noch viel weniger, als würden sie nicht zur LGBTIQ-Szene gehören und als wären ihre Geschichten und Erfahrungen nicht genauso wert erzählt und wahrgenommen zu werden von einer Community, die «inklusiv» und «divers» sein möchte. Und das in Statements immer wieder lautstark für sich reklamiert.
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Während in Deutschland die meisten Intersektionalitätsaktivisten und -aktivistinnen als erstes Geldforderungen an den Staat stellen, damit sozusagen «von oben» entsprechende Sichtbarkeit gefördert wird – was oft zu kleineren Kunstprojekten führt, die nicht viele Menschen mitbekommen – hat sich der Amerikaner Ryan O’Connell für einen anderen Weg entschieden. Ein Weg, der deutlich kommerzieller ist, aber die radikalkapitalistische Welt Hollywoods nicht als den Feind betrachtet, sondern als Möglichkeit, maximale Reichweite als Form von Aktivismus zu nutzen.
O’Connell leidet an Infantiler Zerebralparese, das bedeutet, sein Gehirn wurde kurz vor, während oder nach der Geburt geschädigt. Er hat Schwierigkeiten mit der Koordination seiner Bewegungen und fällt öfters um. Sein Körper wirkt «schlapp», er läuft x-beinig, seine Hände sind zusammengekrampft, seine Brillengläser sind breit und er trägt nur Schuhe, bei denen es keine Schnürsenkel zu verknoten gibt. 2015 hat O’Connell seine Lebens- und Leidensgeschichte in einer Autobiografie erzählt, die den Titel «I‘m Special: And Other Lies We Tell Ourselves» trägt. Darin greift er selbstironisch die Frage auf, was es bedeutet «besonders» zu sein als junger schwuler Mann, der irgendwann mit den Realitäten von Internetdating konfrontiert wird und damit, wie junge Queers mit Traumkörpern am Swimmingpool in Los Angeles auf ihn reagieren, der ein Praktikum bei einem hippen Blogger-Büro anfängt, wo seine Chefin als perfekte Influencerin alles und jeden ausnutzt, um sich selbst besser in Szene zu setzen und «Diversität» nur als Mittel zum Zweck versteht – um mehr Klickzahlen zu generieren.
Gnadenlose Alltagsdiskriminierung Durch diese Welt von gnadenloser Alltagsdiskriminierung muss Ryan O’Connell navigieren, wobei er es weniger schlimm findet, seinen Bürokollegen zu erzählen, dass er schwul ist, solange er das mit der Behinderung verbergen kann. Das gelingt ihm mit einem Trick: Da er auf dem Weg zum ersten Arbeitstag umfällt und einen Unfall hat, schiebt er sein auffälliges körperliches Verhalten auf die Folgen dieses Unfalls und kann für eine Weile erleben, wie es ist, als «normal» angesehen zu werden. Wobei interessanterweise Schwulsein als nicht weiter hinterfragte Normalität beschrieben wird, die Mitglieder dieser «neuen Normalität» aber als attraktive Millennials gezeichnet werden, für die LGBTIQ-«Normalität» keine Errungenschaft ist, sondern selbstverständlicher Alltag – mit der Folge, dass sie sich mit Ryan überhaupt nicht solidarisch verhalten. Weil er nicht in ihren Alltag zu passen scheint.
Aus diesem Stoff hat Ryan O’Connell als Executive Producer eine Serie entwickelt, die Jim Parsons («Big Bang Theory») mit seinem Ehemann Todd Spiewak und ihrer Produktionsfirma «That’s Wonderful Productions» mitfinanziert haben. Sie kam letzten Monat bei Streaming-Anbieter Netflix raus, mit O’Connell in der Hauptrolle. Und hat in schwulen Medien so gut wie gar keinen Widerhall gefunden. Seltsamerweise. Stattdessen haben Zeitschriften wie Musikexpress die acht Folgen zur «besten Netflix-Serie seit langer Zeit» erklärt.
Auf Deutsch heisst die Serie «Special – Ein besonderes Leben» und zeigt ganz unaufgeregt, wie es ist, im Berufsalltag und in Beziehungen (Freundschaften inklusive) mit einer Behinderung zu leben, wie es ist, nicht dem gängigen körperlichen Ideal der Generation Grindr zu entsprechen, wie man damit umgeht, von dieser schlichtweg nicht wahrgenommen zu werden (auch eine Form von Diskriminierung), und wie es ist, wenn dann zusätzlich noch eine Mutter anwesend ist, die das «besondere» Kind nicht loslassen kann, sondern glaubt, sich immerfort schützend vor den Sohn stellen zu müssen. Mit wem solidarisiert man sich da? Wie reagiert man? Wie bewältigt man all die damit zusammenhängenden Probleme? Und wie offen bzw. nicht offen geht man mit dem Thema Behinderung um? Was passiert, wenn man es nicht sofort als Allererstes erzählt und dann später den passenden Moment mit der besten neuen Freundin nicht mehr findet?
Ryan Murphy und «Game of Thrones» als Vorreiter Im Gegensatz zu vielen Queer-Aktivisten und Aktivistinnen, die genau diese Fragen verbunden mit Forderungen stellen, dies aber mit lauter ausgrenzender Aggression tun, weil sie die Zustände für unhaltbar halten und sofort ändern wollen, setzt Ryan O’Connell auf eine andere Strategie: er erzeugt mit seiner Serie Mitgefühl und Einsicht.
Mehr Serien auf Netflix und Amazon Prime mit LGBTIQ-Charakteren
Denn wir sehen Ryan in all diesen Situationen und erkennen uns selbst wieder. Vielleicht erschrecken wir ein bisschen, wenn wir vorgeführt bekommen, wie brutal die junge bunte schöne LGBTIQ-Szene sein kann, wenn man nicht jung, schön und bunt ist, wenn wir die Poolparty sehen, aber selbst auch keinen Pool-Body haben, wenn alle «Easy Sex» haben, nur Ryan nicht, wenn wir den Alltag der Blogger sehen, die mit Intimissima meinen ihre Internetreichweite zu erhöhen, und wenn Ryan sich schämt, sein gehütetes Geheimnis zu lüften. Dabei verliert die Hauptfigur Ryan allerdings niemals den Humor und Optimismus.
Filme und Serien über Menschen mit Behinderung sind in Hollywood eine Seltenheit, obwohl gerade Regisseure und Produzenten wie Ryan Murphy in den letzten Jahren viel bewegt haben, um das zu ändern. Auch «Game of Thrones» hat da eine nicht unbeträchtliche Vorreiterrolle eingenommen und u. a. Peter Dinklage zu einem Kultschauspieler gemacht.
In einem Interview sagte Ryan O’Connell jüngst, dass er sich bewusst ist, dass auf ihm die «Last der Repräsentation» liege. Aber: «Eine einzelne Show kann nicht für alle Menschen gleichzeitig sprechen.» Deshalb ist es gut, dass es viele verschiedene Serienversuche gebe, zum Beispiel «Speechless», wo es auch um einen Jungen mit Zerebralparese geht, der allerdings nicht gleichzeitig schwul ist. Dann gibt’s noch «Atypical» über einen 18-Jährigen mit Autismus oder «Born This Way» über sieben junge Menschen mit Down-Syndrom. In Deutschland läuft aktuell der Film «Die Goldfische» mit Luisa Wöllisch in der Hauptrolle, wobei es ebenfalls um Menschen mit Behinderung und Down-Syndrom geht. Während die Zahl von weiblichen Hauptrollen und vor allem People in Color in zentralen Rollen vor und hinter der Kamera zuletzt signifikant gestiegen ist und damit eine zentrale Diversity-Forderung von Feministinnen und Queerfeministinnen erfüllt scheint, bleibt im Bereich Behinderung noch viel zu tun.
Sollen auch Heteros Schwule spielen? Eine Studie von 2016 ergab, dass 20 Prozent der US-Bevölkerung mit Behinderungen leben, aber 95 Prozent aller Charaktere mit Behinderung in Film und Fernsehen von nichtbehinderten Schauspielern gespielt werden. «Ich habe es satt, dass Darsteller mit Behinderungen zu einer Fussnote in der Diskussion reduziert werden,» sagt der Co-Autor der Studie, der kleinwüchsige Schauspieler Danny Woodburn. «Viele Menschen betrachten Behinderungen aus einer sehr überholten Perspektive.» Woodburn, der in der Serie «Seinfeld» mitspielte, erzählt, dass Hollywood Menschen mit Behinderungen als «tierisch» sehe. Er selbst sollte beispielsweise ständig Leute in den Hinter beissen, für den komischen Effekt. Er hat sich das vertraglich verbieten lassen.
Hollywood liebt es vom Schmerz marginalisierter Gruppen zu profitieren – ohne uns gleichzeitig irgendeine Chance zu geben!
Ryan O’Connell hat diese Diskussion weitergeführt, indem er sagte, dass er für die LGBTIQ-Rollen in seiner Serie auch tatsächlich LGBTIQ-Darsteller wollte. «Habe ich das getan, weil ich glaube, Heteros könnten keinen Homosexuellen spielen? Nein, natürlich nicht», sagte er in einem Interview. «Aber ich kenne viele talentierte schwule Schauspieler, die nicht die gleichen Chancen bekommen, wie heterosexuelle Schauspieler, einfach weil sie schwul sind. So sieht die Welt aus, in der wir leben.» Er ergänzt: «Hollywood liebt es vom Schmerz marginalisierter Gruppen zu profitieren – ohne uns gleichzeitig irgendeine Chance zu geben.» Und wenn schwule Schauspieler schon schwerer an Rollen rankommen, dann ist es für schwule behinderte Schauspieler noch sehr viel schwieriger.
Ryan O’Connell hat sich diese Chance in Hollywood dann einfach selbst geschaffen und in Jim Parson einen einflussreichen Mitstreiter gefunden, der schon mehrfach bewiesen hat, dass ihm als privilegiertem weissen Mann solche Projekte am Herzen liegen und er seine eigenen sogenannten Privilegien nutzt, um an der Chancenungerechtigkeit in Hollywood etwas zu ändern und auch an der Sichtbarkeit von marginalisierten Gruppen innerhalb der «marginalisierten» LGBTIQ-Gesamt-Community.
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Trotzdem ein weißer schwuler Cis-Mann Nun werden vermutlich radikalisierte intersektionale Queerfeministinnen darauf verweisen, dass Ryan O’Connell ein weisser Cis-Mann sei und sich die Privilegienstruktur der Mehrheitsgesellschaft wieder mal auf die Untergruppen überträgt, genauso wie dieser Vorwurf immer wieder gegen schwule weisse Cis-Männer innerhalb der LGBTIQ-Szene erhoben wird, die als «dominant» wahrgenommen werden in Bezug auf Sichtbarkeit und Rederechte. Die Beobachtung ist richtig. Die Frage ist, wie man daran etwas ändern kann: durch Geschrei, permanente Vorwürfe und mit der Forderung nach sofortigem komplettem Wandel, oder dadurch, dass Leute ihre jeweiligen Möglichkeiten und Privilegien nutzen, um etwas zu verändern und zu erweitern. Wovon dann idealerweise irgendwann alle profitieren?
Die erste Staffel von «Special» kann man mühelos in gerade mal zwei Stunden weggebingen, ohne dass man sich danach leer fühlt
Vielleicht folgt bald ein Film oder eine Serie aus Hollywood – oder aus Deutschland? – über eine Figur, die in der Opferolympiadenhierarchie «höher» steht als Ryan O’Connell. Bis dahin lohnt es auf alle Fälle, die Netflix-Serie zu schauen, weil sie auch Nichtbehinderten und Nichtschwulen auf vielen Ebenen Identifikationsmöglichkeiten und Empathiemöglichkeiten bietet. Und dabei nie das Lachen vergisst.
Die erste Staffel von «Special» kann man mühelos in gerade mal zwei Stunden weggebingen, ohne dass man sich danach leer fühlt. «Das ist Entertainment, aber in nachhaltig», meint Musikexpress. Dem kann ich nur zustimmen.
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