Queer History und schwule Selbstsuche: „Zeithain“
Die unheilvolle Liaison des Junkerssohns Hans Hermann von Katte (1704 – 1730) mit dem Sohn des preußischen Soldatenkönigs Friedrich Wilhelm liegt bald 300 Jahre zurück. Der Autor Michael Roes verarbeitet sie in seinem aktuellen Roman „Zeithain“.
Der erste Satz: „Ich heiße Philipp Stanhope …“
Der letzte Satz: „Und nun bin ich doch noch einen Augenblick allein, ganz allein, höre in der Stille den Atem des Henkers, spüre den leichten Zug beim Ausholen seiner kräftigen Arme und versuche, den Tod zu denken, meinen Tod, doch statt dessen kommt mir »Dir leb ich …« in den Sinn, flüstere die Verse, singe sie gar, und die Kälte des Stahls gehört schon nicht mehr meiner Welt an.“
Das Genre: Eine gekonnte Mischung aus historisch fesselndem Roman und schwuler Selbstsuche.
Die Handlung: Hans wächst Anfang des 18. Jahrhunderts als Spross eines preußischen Landjunkers zunächst auf dem Landgut Wust auf. Seien musischen und literarischen Interessen muss er freilich der vorgezeichneten Soldatenlaufbahn unterordnen, lediglich seine Kavaliersreise verschafft ihm eine Auszeit, die ihm so etwas wie Selbstfindung ermöglicht. Zwar fehlen ihm als Kind seiner Zeit die Worte, immerhin ist ihm jedoch klar, dass er sich zu Männern hingezogen fühlt. Zurück in Berlin wird Hans Elitesoldat und dem wenige Jahre jüngeren Kronprinzen als Nachhilfelehrer zugeteilt. Zwischen beiden entwickelt sich aus tiefer Vertrautheit ein Liebeverhältnis. Doch Friedrich erträgt seinen auch für die Zeit über die Maßen brutalen Vater nicht und will fliehen. Natürlich ist Hans eingeweiht – und als die Pläne auffliegen, wird ihm der Prozess gemacht.
Stil und Aufbau: »Eine preußische Liebesgeschichte« nennt Michael Roes seine Romanbiographie über Hans von Katte, den Geliebten Kronprinz Friedrichs. Dass diese Geschichte jedoch weder historisch verklärt noch romantisch verkitscht, liegt an der literarisch brillanten Erzählweise von »Zeithain«: In einer Gegenwartsebene ist Philipp Stanhope im Besitz einiger Briefe Hans von Kattes und macht sich auf die Suche nach den Orten, an denen Hans gewesen war. Seine Eindrücke und Erlebnisse von den Orten, an denen er dann zumeist gar nichts findet, blenden in die mit großer Ruhe mal auktorial, mal aus Ich-Perspektive erzählte Lebensgeschichte Hans von Kattes über. Dabei ist die Suche nach Spuren der Vergangenheit in Wahrheit eine Suche nach sich selbst – und eigentümlicher Weise ist es gerade die Gegenwart Philipp Stanhopes, die magisch aufgeladen und mitunter märchenhaft vernebelt ist, während die eigentliche Geschichte Hans von Kattes klar, rational und aufgeklärt ist.
Das Urteil: Michael Roes ist ein brillanter Erzähler großer Stoffe, allein schon deswegen verschlingt man »Zeithain« von der ersten bis zur letzten Seite. Er ist aber zugleich ein feiner Aufklärer des schwulen Selbstbewusstseins, er zeigt, wie die Suche nach sich selbst die gegenwärtige, vermeintlich realistische Sicht verschleiert, dabei aber die klarsten und tiefsten Erkenntnisse im Blick auf Vergangenheit und Vorstellung hervorbringt. Und so ist gerade durch die zuweilen extravagante Erzählweise »Zeithain« auch ein Roman der Ideengeschichte, der die Figuren der antiken Tragik, der christlichen Schuld und des modernen schwulen Camp tiefgründig vereint.
Michael Roes: Zeithain 808 Seiten, € 28,00 €[A] 28,80 ISBN: 978-3-89561-177-3
Das Buch wurde für die Mannschaft besprochen von Veit Schmidt von der Wiener Buchhandlung „Löwenherz“. Dort liest der Autor Michael Roes am 1. Februar 2018 um 19.30 Uhr aus seinem Roman.
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