Oliver Sim: «Ich bin kein Disney-Prinz»
Der The-xx-Sänger veröffentlicht mit «Hideous Bastard» sein Solodebüt
Die männliche Stimme von The xx wagt auf «Hideous Bastard» den Alleingang. Wir sprachen mit Oliver Sim (33) im Hof eines Berliner Hipster-Hotels über sein leidenschaftliches und mitreissend poppiges Solodebüt, Horrorgestalten und HIV.
Oliver, hättest du dein erstes Soloalbum auch schon vor fünf Jahren machen können? Nein, unter gar keinen Umständen. Ich war noch nicht so weit. Und so zu hundert Prozent weiss ich auch nicht, ob ich es jetzt bin. Ich fühle mich immer noch wie ein unfertiges Produkt. Aber da es mein tiefer Wunsch war, ein Album über Themen wie Angst und Scham zu machen, musste ich mich intensiv mit dem dunklen Unterbach meiner Gefühlswelt auseinandersetzen. Und im Zuge dessen schrecklich schonungslos mit mir selbst sein, sonst hätte es nicht funktioniert.
Ist Schonungslosigkeit der Kern von «Hideous Bastard»? Schonungslosigkeit und Ehrlichkeit. Ich sage jetzt mal zwei schrecklich amerikanisch klingende Dinge: Ich bin gewachsen beim Schreiben dieser Platte. Und mir ist viel Heilung widerfahren, während ich an ihr arbeitete. In Songs ist es leichter für mich, aufrichtig zu sein als in anderen Kommunikationsformen, denn bei einem Song muss ich nicht dabeisitzen, wenn ich jemand anderem etwas Intimes von mir erzähle und ich muss mich auch nicht damit auseinandersetzen, wie er oder sie reagiert. Trotzdem war ich beim Schreiben und Aufnehmen dieser Stücke immer hin- und hergerissen zwischen mächtigem Unbehagen und grossem Vergnügen.
Stilistisch wirkt das Album prächtig und üppig. Bei weitem also nicht so minimalistisch wie die Musik, die du mit Romy Madley Croft und Jamie xx als The xx machst. Das war meine Absicht. Ich bin ein Teil von The xx, aber ich hatte nicht den Drang, die DNA der Band zu rekreieren. Mir ging es viel mehr um dieses «Wer bin ich selbst und was ist die Quintessenz von Oliver Sim?» Zudem entstand der «The xx»-Sound nicht, weil wir unbedingt so kleine und karge Lieder wie möglich aufnehmen wollten. Sondern weil wir in der Anfangszeit schlicht nichts anderes konnten und die Simplizität quasi aus dem Mangel an Versiertheit heraus entstand. Später sind wir dann bei diesem Stil geblieben, weil wir erkannten, dass er uns gut steht.
Deine ersten Worte auf dem Album, im Song «Hideous», lauten «I’m ugly». Denkst du wirklich, du bist hässlich, oder ist das nicht doch eher Koketterie? Ich habe definitiv Momente, in denen ich mich winzig und übersehen fühle. Ausserdem finde ich es megalustig, mein Album mit «Ich bin hässlich» zu beginnen. Einfach, weil mir dieses Denken vieler Popkolleg*innen wahnsinnig auf den Senkel geht, die meinen, sie müssten Life Coaches für ihr Publikum sein. Und die dich dann pausenlos mit diesem «Lieb’ dich selbst»-, «Du schaffst es»- oder «Gib’ deinen Traum niemals auf»-Gesülze traktieren. Ehrlich, mich macht das fertig. Natürlich sind Selbstachtung und Selbstliebe wichtig, damit du nicht vor die Hunde gehst. Aber ohne Selbsthass und ohne Selbstverachtung geht es eben auch nicht. Manchmal fühlt man sich einfach scheisse, und das ist auch völlig in Ordnung.
Das Video zu «Hideous», zu Deutsch «Abstossend», ist ein richtiger Kurzfilm, der beim Filmfestival in Cannes lief, und in dem du als eine Art Frankenstein-Kreatur zu sehen bist. Mein Gott, ich habe es voll und ganz geliebt, diesen Film zu machen. Als Jugendlicher habe ich fast nur Horror- und Fantasyfilme geguckt, meine liebsten Charaktere waren gebrochene Monstergestalten, die wegen ihres Andersseins gejagt und gequält wurden, bevor sie zurückschlugen. Oder sehr wütende und sehr coole Frauen. Ich bin kein Disney-Prinz, ich bin kein Action-Held, aber diese Figuren vereinten Qualitäten auf sich, mit denen ich mich identifizieren konnte.
Denkst du, auch deine Musik erzeugt Bilder in den Köpfen der Hörenden? Den Gedanken finde ich sehr schön. Alle meine Lieblingskünstler kreieren oder kreierten Welten aus Musik und Visuellem, aus Kunst und aus Mode. Nehmen wir nur etwa David Bowie oder Björk.
In «Unreliable Narrator» sagst du «I try hard to be authentic». Wie wichtig ist dir denn Authentizität in deiner Popmusik, die ja nicht zuletzt auch ein Spiel mit Identitäten und Kunstfiguren ist? Authentizität ist nicht wichtig für mich – nicht in meiner Musik, und auch nicht in Musik generell. Mir ist mehr daran gelegen, ob ich Musik fantasievoll finde, ob sie mir ein Abenteuer in Aussicht stellt. Ich kann als Hörer selbst herausfinden und entscheiden, ob mich ein bestimmter Song, ein bestimmtes Album anspricht und berührt. Es muss nicht in einem Paket geliefert werden, auf dem vorne steht «Extra ehrlich».
Du sprichst auf «Hideous Bastard» sehr unverblümt über deine Homosexualität. Hast du als Heranwachsender schon offen schwul gelebt? Nein. Ich hatte keine Romanzen in der Schule und habe meine sexuellen Interessen rein mithilfe meiner Vorstellungskraft befriedigt. Ich war ein ängstlicher Teenager, der sich in Horrorfilme flüchtete. Mein grosses Glück war, dass ich mit Romy schon seit dem Kindergarten und mit Jamie seit der fünften Klasse eng befreundet bin. Mit den beiden fühlte ich mich nie allein.
«Das Album ist mein Befreiungsschlag»
Hast du lange mit dir gekämpft, ob du wirklich im Song «Hideous» erzählen willst, dass du mit 17 erfahren hast, HIV zu haben? Auch das hätte ich mich vor ein paar Jahren niemals getraut. Das Album ist wirklich wie ein Befreiungsschlag für mich, ich bin immer wieder von meiner eigenen Courage überrascht. Als ich den Song schrieb, meinte meine Mutter lediglich, ich könne eine solche Information nicht einfach hinausposaunen, ohne zuvor mit ein paar Leuten darüber zu sprechen, die mir nahestehen. Ich merkte, wie es mir mit jedem Gespräch leichter fiel, offen zu sein. Ich bin kein Aktivist und lege es auch nicht darauf an, ein Vorbild zu sein. Aber hinter einer solchen Aussage kann ich mich jetzt nicht mehr verstecken.
Bist du nun der «Confident Man», wie du in dem Song fast Mantra-artig beschwörst? Mal so, mal so. Ich denke, ich gehe immer selbstbewusster mit meinem defizitären Selbstvertrauen um. So einem sehr offenen Gespräch wie unserem gerade wäre ich vor ein paar Jahren sicher noch ausgewichen. Es hat mir und meinem Vertrauen in mich sehr gutgetan, mich so grundlegend mit mir selbst und meiner Rolle als Mann in dieser Welt zu beschäftigen.
Hast du irgendetwas an dir geändert? Ich bin viele Babyschritte gegangen. Früher habe ich mich manchmal dabei erwischt, meine Stimme in alltäglichen Situationen tiefer und damit vermeintlich weniger schwul klingen zu lassen. Wenn ich zum Beispiel in ein Taxi einstieg, habe ich meine Stimme bewusst gesenkt. Aber alle diese kleinen Lügen bauen sich auf zu einem grossen «Ich bin nicht okay, so wie ich bin». Als ich das selbst realisierte, wurde ich wütend auf mich und traurig. Inzwischen komme ich mit weitaus weniger Selbstbetrug durchs Leben.
Als Gastsänger auf «Hideous» und zwei weiteren Albumsongs ist Gay-Ikone Jimmy Somerville dabei. Kennt ihr euch schon lange? Ich habe den Kontakt zu Jimmy gesucht, weil ich ihn bewundere und mit ihm befreundet sein wollte. Während Corona schrieben wir uns Briefe und Emails, später besuchte ich ihn und gestand ihm, dass ich den Part in «Hideous» wirklich extra für ihn geschrieben habe. Jimmy hat für mich die Stimme eines Schutzengels, und er ist ein sehr lustiger und liebevoller Mensch. Wir sprechen alle paar Tage zusammen, und er schickt mir immer Fotos von den Blumen in seinem Garten.
Oliver Sim
Der Londoner ist Sänger und Bassist der Indie-Pop-Rock-Band The xx, deren Songs überaus beliebt sind zur musikalischen Untermalung von Filmen und Fernsehserien etwa für «Der grosse Gatsby», «The Vampire Diaries», «Grey’s Anatomy» oder «Gossip Girl». Nach drei «The xx»-Studioalbum bringt Oliver Sim mit «Hideous Bastard» nun sein Solodebüt heraus.
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