«Natürlichkeit – das ist das A und O»
Pascal, wie kamst du darauf, deine Masterarbeit zu diesem Thema zu schreiben? Eigentlich war das reiner Selbstzweck. Ich bin selber Lehrer und schwul, und während des Studiums hatte ich mich immer wieder gefragt, wie ich künftig im Berufsalltag mit meiner Homosexualität umgehen sollte. Ich begann zu recherchieren und musste bald einmal feststellen, dass es zu dieser Thematik nur wenige Informationen gab. So fiel der Entschluss, mich in meiner Masterarbeit mit Fragen rund ums Coming-out in der Schule zu beschäftigen.
Welche Methode hast du angewendet? Ich führte qualitative Interviews mit sechs geouteten homosexuellen Lehrkräften – drei Männer, drei Frauen, die auf verschiedenen Stufen unterrichten, von der Grundschule über die Oberstufe bis ins Gymnasium. Ich wollte von ihnen vor allem zwei Dinge wissen: Was war ihre Motivation, sich im Kontext der Schule zu outen? Und wie sind sie konkret vorgegangen?
Was sagten die Befragten zu ihrer Motivation, das Coming-out zu geben? Es ging ihnen darum, sich natürlich verhalten zu können und sich nicht zu verstecken zu brauchen. Sie wollten nicht immer aufpassen müssen, was sie in welcher Situation sagen und welche Geschichte sie wann erzählen. Einzelne sagten ausdrücklich, sie hätten auch im Schulumfeld kein Doppelleben führen wollen.
Und wie sind sie beim Coming-out konkret vorgegangen? Auch hier war Natürlichkeit das Schlagwort. Keine der Lehrpersonen machte das eigene Schwul- oder Lesbischsein explizit zum Thema. Sie erwähnten es einfach, eher nebensächlich, als es sich im Gespräch ergab.
Welche Erfahrungen haben deine Interviewpartnerinnen und –partner rund um ihr Outing gemacht? Fast ausnahmslos gute. Schwierigkeiten gab es keine, weder mit der Schüler- noch mit der Elternschaft. Mit Autoritätsproblemen und dergleichen hatte niemand zu kämpfen. Einer der Lehrer erzählte sogar, unter seinen männlichen Schülern hätte sich ein regelrechter Wettbewerb entwickelt, wer mit dem Schwulsein ihres Lehrers am lockersten umgehe. Nur eine Person berichtete von ein paar Seitenhieben aus dem Lehrerteam heraus.
Wie handhabst du selbst das Ganze? Ich habe die Erkenntnisse meiner Arbeit angewendet. Das heisst, ich lege Wert auf einen natürlichen Umgang. Ich band es meinen Schülerinnen und Schülern nie auf die Nase. Zu Beginn wussten sie es nicht, aber nach etwa einem halben Jahr war es so weit – da kam sie, die Frage: «Herr Rotach, wir hörten, Sie seien schwul?» Ich bestätigte zunächst nicht, da die Frage nur von einer Schülerin nach dem Unterricht kam. Tags darauf griff ich die Frage dann aber im Plenum auf und erwähnte in zwei Sätzen, dass ich seit so und so vielen Jahren in einer Partnerschaft sei und mit meinem Freund zusammenwohnt.
Und wie nahm die Klasse das auf? Sie nahm es sehr gut auf. Eine Gruppe von Schülerinnen und Schülern kam bald nach dem Gespräch auf mich zu, wobei einer der Schüler das Wort ergriff und meinte: «Herr Rotach, wir finden, Sie sind einfach ein toller Lehrer» (lacht). Die Schüler gingen zwar nicht konkret auf mein Schwulsein ein. Es war aber klar, dass diese Äusserung im Zusammenhang mit meinem Coming-out stand. Es war ein sehr schöner Moment.
Wie lief es ausserhalb der Klasse? Während einer kurzen Phase hörte ich in den Schulgängen ab und zu ein wenig Getuschel, wenn ich durchlief. Aber ein, zwei Monate später war das wieder vorbei.
Weisst du von Erfahrungen weiterer Lehrerinnen und Lehrer? Ja, vier ehemalige Mitstudentinnen und Mitstudenten der PH St. Gallen sind ebenfalls homosexuell. Ich weiss, dass von ihnen niemand geoutet ist an der Schule. Sie fürchten sich zu sehr vor negativen Reaktionen.
Welchen Tipp würdest du anderen homosexuellen Lehrerinnen und Lehrern geben? Ich halte es für wichtig, dass man keine Angriffsfläche bietet und die eigene Homosexualität als eine völlig normale Tatsache hinstellt, die schlicht nicht diskutiert werden kann. Zudem würde ich die Schulleitung informieren. So ist man sich der nötigen Rückendeckung gewiss, sollte es zu Problemen kommen. Ich hatte im Vorstellungsgespräch klar darauf hingewiesen, dass sie mit mir einen schwulen Lehrer anstellen würden. Die Reaktionen waren bestärkend. Die Schulleitung sagte, das sei überhaupt kein Problem.
[perfectpullquote align=“left“ bordertop=“false“ cite=““ link=““ color=““ class=““ size=““]Meiner Meinung nach hat es keinerlei Relevanz für den Schulbetrieb, ob ein Lehrer oder eine Lehrerin homosexuell ist.[/perfectpullquote]
«Keine Angriffsfläche bieten» – wie gelingt dir das? Ich verspüre in Bezug auf meine Homosexualität keine Unsicherheit und bin mit mir selbst im Reinen. Meiner Meinung nach hat es keinerlei Relevanz für den Schulbetrieb, ob ein Lehrer oder eine Lehrerin homosexuell ist.
Ich kann meinen Job genauso gut machen wie ein Heterosexueller. Ich glaube, meine Klassen haben das verstanden. Letztendlich geht es um Selbstsicherheit. Du musst wissen, wer du bist, wenn du vor eine Klasse stehst. Die Schülerinnen und Schüler spüren derartige Dinge sofort.
Wie beurteilst du den Umgang der Schulen mit dem Thema? Ich glaube, unterdessen ist eine gewisse Sensibilität vorhanden. Ich kann das nicht für die ganze Schweiz verallgemeinern, da fehlen mir die entsprechenden Kenntnisse. An denjenigen Schulen, an denen ich bis anhin unterrichtet habe, war Homosexualität aber stets ein Thema. Es wurde nicht totgeschwiegen, sondern im Rahmen der Sexualpädagogik oder von Fächern wie «Individuum und Gemeinschaft» in die Jahresplanung mit einbezogen. Die Schule, an der ich tätig bin, lädt jeweils für alle Schülerinnen und Schüler der dritten Oberstufe das Projekt «Comout» der Fachstelle für Aids- und Sexualfragen St. Gallen-Appenzell ein. Auf diese Weise erfahren die Klassen Wertvolles zum Schwul- und Lesbischsein sowie zum Coming-out-Prozess.
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