Liebe zwischen Leder und BDSM: «Box Hill»
Roman über eine ungewöhnliche Beziehung
Colin ist fasziniert von dem dominanten Ray: «Box Hill» von Adam Mars-Jones erzählt von der Beziehung der beiden Ledertypen. Aber es ist alles andere als eine klassische Liebesgeschichte.
Colin fährt an seinem 18. Geburtstag im Jahr 1975 zum «Box Hill» nahe des Ortes Leatherhead im englischen Surrey, wo sich immer die Biker treffen. Als er sich vorsichtig dort umsieht, stolpert er über die Beine von Ray, der dort im Gras liegt. Colin ist unsicher, unerfahren und hält sich selbst nicht für besonders hübsch. Der etwas ältere Ray ist für ihn ein Leder-Adonis. Und der interessiert sich nun auch noch für Colin. «Ich war bereit. Ich wusste zwar nicht genau wofür, aber ich war bereit», sagt Colin. Beide haben dort gleich Sex und Ray nimmt Colin mit zu sich. Dann geht alles ganz schnell und Colin zieht in mit in Rays Wohnung ein.
Die Beziehung, die beide führen, ist alles andere als gewöhnlich. Colin muss auf dem Boden schlafen, muss Rays Bett machen und kriegt die Haare abrasiert. Wenn Ray mit seinen Biker-Freunden regelmässig Pokerabende veranstaltet, sitzt Colin ebenfalls auf dem Boden und liest Bücher über den 30-Jährigen Krieg oder über Architektur, weil Pokern nicht so sein Ding ist. Er muss in den Pokerpausen für die Bikerfreunde herhalten. Adam Mars-Jones zeigt das Ganze teilweise auch sehr humorvoll. So ist Colin stolz darauf, dass Ray mit seinen Diensten zufrieden ist. Denn bei anderen wirke Ray so lustlos, «wie wenn Prinz Philip einen neuen Krankenhausanbau einweiht».
Colin lässt dies mit sich geschehen. Mehr noch: er will es offenbar gar nicht anders. Colin sagt über Ray: «Kurioserweise entfesselte er meine Wünsche, obwohl er mir meinen Willen zu nehmen schien». Colin geniesst es, wenn er Ray zu Füßen sitzt, während der vom Sessel aus seine Beine um Colins Hals schlingt. Und auf seine Weise sorgt sich Ray auch um Colin, beschützt ihn. «Es ging ihm nie darum, jemanden zu zwingen», sagt Colin.
Und doch stimmt bei aller freiwillig gewählten Hierarchie etwas in der Beziehung der beiden nicht. Es ist dann doch kein Gleichgewicht im Ungleichgewicht. Ray spricht fast nie mit Colin, sie reden nie über ihre Gefühle oder Erfahrungen miteinander. Colin erfährt in all den gemeinsamen Jahren nicht mal den Nachnahmen von Ray, oder wo er arbeitet, oder was er sonst so treibt. Colin mag an Ray diese Distanz und das daraus entstehende Geheimnisvolle. Aber ist er wirklich zufrieden damit? Colin verdrängt solche Fragen lieber.
Dabei ist Colin alles andere als einfach willenlos und schwach. Denn in seinem Beruf und gegenüber seiner Familie tritt er sehr selbständig auf. Besonders in seiner Familie, die es nicht leicht hat, muss er auch Verantwortung übernehmen. Colins Mutter pflegt ihren Mann und auch die oft undankbare Nachbarin. Sie gibt ihre Freiheit für die beiden zu Pflegenden völlig auf. Das führt bei Colin dann zu recht skurrilen Einsichten, wenn nun ausgerechnet er über seine Mutter sagt: «Es machte mich wütend, dass sie sich ausnutzen liess, aber sie wollte es so».
Als Colin diese Geschichte erzählt, ist er bereits 42 und blickt auf sein Leben mit Ray zurück. Diese Episode lässt ihn nie ganz los, er kommt nicht von Ray los, obwohl er da schon längst nicht mehr mit ihm zusammen ist. War Colin nun blind, nur fokussiert auf ein Liebesobjekt? Wusste er, was er da gemacht hat? Kann man von aussen überhaupt sagen, was jemand wollen soll? Diese Fragen stellen sich in diesem Roman. «Ray war gut zu mir – wirklich», sagt er später. Colin akzeptiert die Dinge einfach wie sie sind, hat Angst, dass er alles kaputt macht, wenn er dem Ganzen auf den Grund geht.
Adam Mars-Jones, der bereits ein gefeierter Schriftsteller ist, wagt sich mit diesem Thema auf popkulturell bisher wenig bearbeitetes Terrain. Breiter bekannt ist etwa bisher nur der Roman «Mr. Benson» von John Preston zu dem gleichen Thema aus dem Jahr 1983. Oder natürlich der Film «Cruising» von William Friedkin mit Al Pacino von 1980, der aber sehr stark von Kriminalität und Gewalt handelt.
Adam Mars-Jones schafft es, weit verbreitete Vorurteile über die Lederszene zu irritieren. So geben sich die Biker im Buch zwar hart, doch werden ungewaschene und brutale Typen von ihnen abgelehnt und rausgeschmissen. Ray ist zwar bestimmend, aber bei seinen Motorradfahrten immer übervorsichtig, also das Gegenteil eines rücksichtslosen Draufgängers. Manchmal verbietet er Colin Dinge, weil er sie für zu gefährlich hält.
Bei der geschilderten Welt der Lederszene der 70er Jahre fällt auf, wie wenig dies alles mit der heutigen Kink-Szene zu tun haben dürfte. Mit dem Kennenlernen in Sozialen Medien, den vielen Events, Bars und Partys, der teilweisen Verbreitung dieses Lebensstils in der Pop-Kultur, der Kommerzialisierung und einer anderen rechtlichen Situation in vielen westlichen Ländern. Gerade dieser Kontrast macht die Geschichte aber stark. Und es geht noch um etwas anderes, das Colin selbst einmal ausspricht. Nämlich um den Bruch, den die Aids-Krise gerade in der schwulen Lederszene bewirkte. Es war eben jene ganz bestimmte Form der Freiheit, die dadurch verloren ging. Mars-Jones beschwört dieses Lebensgefühl herauf, wenn er seine Geschichte in die vor-Aids-Zeit legt.
Der Roman verhandelt die Fragen von Selbstbestimmung und Freiheit, und bietet eine spannende Perspektive, die auch innerhalb der queeren Welt oft unterbelichtet ist. Dabei lebt das Buch von seinen Kontrasten. Colin spricht an einer Stelle über einen Hypnotiseur, der einem suggeriert, man esse einen Apfel und man merkt erst am Ende, dass es eine Zitrone gewesen ist. Auf diese Art changiert auch das Buch «Box Hill» vom Süssen ins beissend Saure und wieder zurück.
Mars Jones macht es den Lesenden leicht, sich in diese Welt hineinversetzen zu können. Denn durch die Figur des 18-jährigen Colin, der alles neu erkundet, nimmt er die Lesenden mit in eine Sphäre, in der die meisten Menschen wohl noch nie waren. Alles wird dann auch konsequent aus den Augen von Colin erzählt. Ohne Kapitel oder Unterbrechungen rast die Geschichte, die 2020 im Original auf Englisch erschienen ist, atemberaubend auf seinen knapp 150 Seiten dahin.
Das Buch hält einen davon ab, schnell einfache Urteile zu fällen, lässt verrucht Reizvolles neben verstörend Unverständlichem stehen. Löst nicht auf, erzählt einfach Colins Geschichte, den die Beziehung zu Ray sicher überfordert hat, ihn aber auch selbständiger gemacht hat, wenn er rückblickend sagt: «Jemanden lieben, der immer nur gut zu mir ist, das hätte ich nicht gekonnt. Das war schon so, bevor ich ihn kennenlernte, und so ist es noch immer».
«Box Hill» von Adam Mars-Jones erscheint Ende des Monats bei Albino.
Adam Mars-Jones – «Box Hill» (hier bestellen bei Eisenherz) Aus dem Englischen von Gregor Runge Albino, gebunden mit Schutzumschlag und Lesebändchen, 144 Seiten, 24,00 € / CHF 35,90
Mehr: Didier Eribon würdigt in seinem neuen Buch seine Mutter: «Muss von ihr erzählen, damit sie weiterlebt» (MANNSCHAFT berichtete).
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