«Ich bin es leid, dass andere für mich entscheiden, was verletzend ist!»
Der Kommentar zu Müllers Spruch vom «schwulen Weggedrehe» und den Reaktionen darauf
Letzte Woche: Der FC St. Gallen schlägt Luzern zuhause mit 4:1. Das ärgerte Torwart Marius Müller so sehr, dass er eine homofeindliche Schimpftirade losliess. Dazu ein Gastkommentar* von Unternehmer Adrian Berchtold.
Vor einigen Tagen tätigte der Fussballspieler des FC Luzern, Marius Müller, in zwei Interviews homophobe Aussagen (MANNSCHAFT berichtete). Umgehend veröffentlichten Spieler und Club mit PR-Floskeln angereicherte Sorry-Statements. Müller ist Deutscher, und so zog die Geschichte ihre Kreise bis in die deutsche Tagespresse. Deren Kommentarrubriken waren anschliessend voller Beiträge von Menschen, die die Reaktionen und Sanktionen wegen Müllers Entgleisungen übertrieben oder gar unnötig empfanden. Es sei «alles im Eifer des Gefechts gewesen», «in einem emotionalen Ausnahmezustand» und «nicht so gemeint», musste ich in den letzten Tagen oft lesen. Für einen heterosexuellen Menschen mag das vielleicht sogar so erscheinen. Aber womöglich haben bei dir diese Kommentare (oder die Anzahl) wie bei mir einiges ausgelöst.
Wenn eine Person «es» in normalen Gesprächen unterdrücken kann und im emotionalen Zustand nicht, frage ich mich, wie tief im Unterbewusstsein muss dann bei dieser Person die negative Assoziation sein oder was wurde ihr von zuhause mit auf den Weg gegeben?
Und dann frage ich mich weiter: Bei wie vielen Menschen, denen ich tagtäglich begegne, laufen die selben Gedankenmuster im Kopf ab? Wie viele Menschen, die zu mir gute Miene machen, würden auch so einen Kommentar unter einen Artikel setzen? Wie akzeptiert ist Homosexualität in der Gesellschaft denn nun wirklich? Was wird zuhause an den Küchentischen tatsächlich gesprochen, im Beruf, in der Männerrunde, auf Familienfesten und in der Umkleidekabine beim Sport?
Ich denke auch an heranwachsende Menschen die auf ihr Idol, wie eben so einen Fussballspieler, hinaufschauen. Menschen, die in konservativen Strukturen aufwachsen und sich tagtäglich solche Bemerkungen anhören müssen. Queere Menschen im Sport, die wegen solchen Erlebnissen nicht Mut finden können, in der Öffentlichkeit zu sich zu stehen. Oder Menschen wie ich einer war, für den solche Aussagen immer wieder Grund waren, sich über Jahre hinweg nicht outen zu können. Worte haben eben mehr Gewicht, als wir oft glauben.
Ich bin Geschäftsführer und Co-Owner einer kleinen Teppichmanufaktur in der Schweiz und schwul. Unsere Mitarbeitenden, Lieferant*innen und Kund*innen kommen aus der ganzen Welt. Verschiedenste Kulturen, Religionen und Lebensentwürfe kommen so zusammen. Ich sehe meinen Beruf als Geschenk, einen kleinen Teil der Gemeinschaft und die Textilindustrie in der Schweiz mitzugestalten.
Dieser Einfluss bedeutet auch, dass meine Aussagen und Tätigkeiten eine gewisse Tragweite besitzen. Bei Weitem nicht die eines bekannten Fussballers. Doch es gibt Menschen, die meine Aussagen – hoffe ich zumindest – ernst nehmen. Klar, ich könnte als Mann Witze über Frauen reissen. Wenn meine beiden Mitarbeiter aus dem Tibet mit am Tisch sitzen, könnte ich irgendeine flapsige Bemerkung über eine fremde Kultur machen.
Ich kann mich aber auch selbst weiterbilden, an meiner Empathie arbeiten und solche Aussagen nicht machen, ich habe die Wahl. Der Fussballer kann es auch. Wenn er schon in seinem Statement sagt, er kenne viele Homosexuelle, und Diskriminierung entspreche nicht seinen Werten, dann kann er doch seinen Wortschatz entsprechend anpassen. Auch abseits des Scheinwerferlichts, das wäre dann noch viel ehrlicher. Der Chef kann es, der Trainer der Heranwachsenden, die Kassiererin um die Ecke, die Lehrerin, Eltern von Kindern – alle können es.
Und wer bestimmt denn nun was richtig und falsch ist? In den Kommentaren las ich immer wieder «man dürfe heute nichts mehr sagen». Falsch!
Als erwachsener Mensch muss ich mir meiner Handlungen und deren Folgen bewusst sein – grundsätzlich bei jedem Schritt, den ich tue. Ich sollte ja auch nicht im Strassenverkehr einem Menschen, der mir den Vortritt nimmt, eine schmieren und dann sagen «war halt ein emotionaler Ausnahmezustand». Vielleicht ist das Beispiel überspitzt, aber du verstehst, glaube ich, was ich meine.
Meine ältere Schwester verstarb eine Woche nach ihrer Geburt an einer schweren Behinderung und ich kam 2 Monate zu früh auf die Welt, bekam bei der Geburt zu wenig Sauerstoff. Ich entging nur knapp einer Cerebralparese. Wenn du deinen besten Kumpel, der sich daneben benimmt, „behindert» nennst, ist das für meine Eltern und mich nicht einfach so eine flapsige Bemerkung.
Für mich ist es eben auch nicht lustig, wenn jemand in der Männerrunde von einem «Hinterlader» spricht oder seinem Arbeitskollegen sagt, er halte das Glas «schwul». Genauso wie ich als Teil einer diskriminierten Community auch der Überzeugung bin, dass ich als weisser Mann nicht definieren soll, welche Begriffe für People of Colour in Ordnung sind. Beinahe schon lächerlich finde ich die Versuche von alten Männern, in Fernsehdebatten Argumente gegen das Gendern zu finden.
Unwissen oder Unachtsamkeit haben bestimmt auch schon bei mir zu Bemerkungen geführt, die Menschen verletzten, wie wohl jedem Menschen schon, wir sind alle nicht perfekt. Die Frage, die man sich in so einem Moment glaube ich stellen muss, ist: Will ich an der Bemerkung festhalten, weil man sonst irgendwann «nichts mehr sagen darf» oder wäre es nicht besser, an einer Zukunft mit Terminologien, die nicht diskriminierend sind, zu arbeiten? Unsere Werte und unsere Sprache entwickeln sich weiter, das taten sie immer schon und das werden sie immer tun.
Nicht-Betroffene müssen endlich lernen, dass nicht sie entscheiden dürfen, was homophob ist.
Nicht-Betroffene müssen meiner Meinung nach endlich lernen, dass nicht sie entscheiden dürfen, was beleidigend, homophob, frauenfeindlich, rassistisch, gendergerecht etc. ist. Diese Einschätzung – die sehr individuell ist – soll alleine der jeweilige Person, die betroffen ist, zustehen. Sie darf bestimmen, welche Bezeichnung sie passend oder unpassend empfindet. Sie soll sagen dürfen, wenn sie sich nicht respektiert fühlt.
Alle anderen haben dies zu akzeptieren. Sie sollen ihre Aussagen und Meinungen im besten Fall überdenken. Können sie dies nicht, sollen sie zum Thema, das sie gar nicht betrifft, einfach schweigen.
Ich bin ich es leid, dass andere für mich entscheiden, was für mich verletzend ist und was ich akzeptieren muss.
*Jeden Samstag veröffentlichen wir auf MANNSCHAFT.com einen Kommentar zu einem aktuellen LGBTIQ-Thema. Die Meinung der Autor*innen spiegelt nicht zwangsläufig die Meinung der Redaktion wider.
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