«Ich bin 20 Leute auf einmal» – Hamburg feiert «Orlando»-Premiere
Das Potential wird verschenkt, meint unser Rezensent
Am Deutschen Schauspielhaus Hamburg inszeniert der Schweizer Regisseur Jossi Wieler Virginia Woolfs Romanklassiker und lässt dabei nicht nur «Orlando»s Identität, sondern auch eine grosse Eiche spalten.
Dass die individuell empfundene Geschlechtsidentität von dem bei der Geburt zugewiesenen Geschlecht abweichen kann, gilt mittlerweile in weiten Teilen unserer Gesellschaft als gegeben. Dass sich aber die Geschlechtsidentität – wie die Sexualität im Übrigen auch – im Laufe unseres Lebens fortwährend entwickeln und sich dabei auch potenziell verändern kann, ist vor allem für nicht-queere Menschen schwer vorstellbar.
Das mag zum einen an ihrer der Norm folgenden, eigenen Lebensrealität und ihrem (statischen, unveränderbaren) Verständnis von Sexualität und Geschlechtsidentität liegen. Für eine grössere Offenheit und Freude am Entdecken und Entwickeln plädierte die queere Autorin und Publizistin Carolin Emcke in ihrem bewegenden Buch «Wie wir begehren» bereits 2013.
Aber wie ist das eigentlich, im Laufe seines Lebens seine Geschlechtsidentität und Sexualität zu verändern? Orlando, aus Virginia Woolfs Romanklassiker «Orlando – Eine Biographie» aus dem Jahr 1928, erfährt genau das: Ein Jahrhundert lang lebt Orlando als Mann – zunächst als junger Adliger am Hofe von Königin Elizabeth I. Dann tritt Orlando in Konstantinopel in den Dienst der britischen Botschaft ein.
Nach einem siebentägigen Schlaf erwacht er schliesslich als Frau – eine fantastische Verwandlung, anhand derer die Autorin von der Vielseitigkeit der menschlichen Identität erzählt und ihre Titelfigur durch verschiedene Geschlechter und Jahrhunderte führt. Die Geschichte endet schliesslich in den 1920er-Jahren mit Orlando als weiblicher Schriftstellerin.
Woolf pfeift dabei auf sämtliche Regeln und Normen und lotet die Grenzen von Gesellschaft und Natur nach Belieben neu aus. Sie zeichnet ein breites Spektrum an Epochen, Geschichte und Identität und liefert eine fantastische Erzählung, die auch heute noch Menschen in ihren Bann zieht und Künstler*innen auf der ganzen Welt zu neuen Werken inspiriert, wie zuletzt zum Beispiel den Philosophen und trans Aktivisten Paul B. Preciado zu seinem Dokumentarfilm «Orlando, meine politische Biografie» (aktuell zu sehen in der Arte-Mediathek).
Am Deutschen Schauspielhaus Hamburg hat sich der 72-jährige Theater- und Opernregisseur Jossi Wieler von Virginia Woolfs «Orlando» begeistern lassen und es mit einem siebenköpfigen Ensemble auf die Bühne gebracht. Die dazugehörige Bühnenfassung steuerte der produktionsbegleitende Dramaturg Ralf Fiedler bei, der den in Prosa geschriebenen Text dramatisierte und auf eine Spiellänge von rund 105 Minuten verdichtete.
Am 29. April 1921 schrieb Virginia Woolf in ihr Tagebuch: «Ich bin zwanzig Leute auf einmal». Das war noch Jahre bevor sie an «Orlando» zu schreiben begann. Woolf stellt damit die These auf, dass aus ein Ich folglich aus mehreren Ichs besteht. Regisseur Jossi Wieler greift diesen Gedanken für seine Inszenierung auf und macht sie zum zentralen Dreh- und Angelpunkt: Er spaltet Orlandos Ich in fünf verschiedene Ichs auf und lässt sie von fünf Schauspielerinnen unterschiedlichen Alters und Erscheinungsbilds verkörpern.
Gleich zu Beginn treten sie gemeinsam auf, setzen sich an einen Tisch an der Bühnenrampe, fünf Gläser Whiskey vor Augen, und beginnen zu erzählen. Dabei ringen sie um die «richtige» Erzählweise, unterbrechen und verbessern sich auch mal und reagieren ständig aufeinander.
Musikalisch werden sie dabei von Friederike Bernhardt begleitet, die den passenden unaufdringlichen Musikteppich liefert. Szenisch passiert hingegen wenig. Im Hintergrund ist eine riesige künstliche Eiche zu sehen, die quer über dem Bühnenboden liegt und von zwei Schauspieler*innen mit zusätzlichen Ästen und Moos an der Baumrinde in minutiöser, detailverliebter Kleinstarbeit versehen wird. Ihr Innenleben ist ausgehöhlt, die Wurzel völlig vom Stamm getrennt.
In gewisser Weise ist Wielers Inszenierung Huldigung und Kapitulation zugleich – vor der überbordenden Romanvorlage und der schillernden Filmadaption mit Tilda Swinton als Orlando aus dem Jahre 1992. Die Inszenierung verharrt bei Sprachbildern, in Theaterbilder wird nichts umgesetzt. Nicht einmal der Versuch wird unternommen.
Das sorgt für ein äusserst statisches Bühnenspiel, indem das Ensemble nur selten und zaghaft ins Spielen miteinander kommt. Es bleibt bei szenischen Skizzen, die von den fünf Orlando-Spielerinnen umrissen werden. Kommt gerade eine Dynamik auf, brechen sie ab und kehren zur Neukalibrierung zurück an den Tisch. Lediglich die Eiche, die mit der Drehbühne munter ihre Kreise zieht, bleibt ständig in Bewegung.
Damit wird auch das Potential des Textes und seine verschiedenen Auswüchse und Verästelungen verschenkt: Denn Orlandos Reise durch die verschiedenen Jahrhunderte erzählt auch ein Stück patriarchaler Menschheitsgeschichte und gilt nicht umsonst als Gender-Roman der Stunde. Stattdessen arbeitet sich Wieler an der Konstruktion von Identität und Zeit ab, was nicht minder interessant ist, aber aufgrund seiner Langsamkeit und seiner reduzierten Form das ungenutzte Potential schmerzhaft spürbar werden lässt. Vieles bleibt nur angedeutet, die Handlung verharrt in der Behauptung.
Dass sich offenbar nicht einmal ausreichend mit der Thematik der Transidentität in Bezug auf Orlando auseinandergesetzt wurde, lässt der Einführungstext aus dem Programmheft vermuten: Darin spricht Dramaturg Ralf Fiedler nämlich von «‹Orlando› als Frühwerk zum Thema Transsexualität».
Die Nutzung des Begriffs «transsexuell» zur Beschreibung von trans Personen durch cis Personen wird allerdings wegen des historischen Kontexts häufig als diskriminierend angesehen und von trans Personen abgelehnt. Es muss offenbar auch im Theater noch weiter für das Thema und das Sprechen darüber sensibilisiert werden. Das Potenzial an diesem Theaterabend wäre eigentlich dafür da gewesen, blieb aber leider ungenutzt. Schade!
Nächste Vorstellung von «Orlando» in Hamburg: Sonntag, 4. Februar – weitere Informationen.
Zwei Wochen nach seiner «Wiederauferstehung» mit der polarisierenden Single «J Christ», die bei seinen Fans und in den Medien eine Blasphemie-Debatte lostrat und für Furore sorgte, meldet sich Lil Nas X mit den nächsten News bei seinen Fans (MANNSCHAFT berichtete).
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