«Einen schwulen Bruder zu haben öffnete mir die Augen»

Chris Evans stammt aus einer Familie, die grossen Wert auf Verständnis, Offenheit und Mitgefühl legt. Mit der Mannschaft spricht der 36-jährige Schauspieler über seinen neuen Film «Begabt», in dem er den Onkel eines hochbegabten Mädchens spielt.

Chris, in «Begabt» spielst du einen Onkel, der zum Vaterersatz für ein hochbegabtes kleines Mädchen wird. Wolltest du ganz bewusst eine Rolle spielen, die man von dir weniger kennt? Na ja, es ist ja nicht so, dass ich in meinem Leben bislang nur Superhelden gespielt habe. Ich habe in meiner Karriere sicherlich schon dreissig Filme in den unterschiedlichsten Rollen gedreht. Aber ich weiss natürlich, was du meinst. In den letzten Jahren war ich oft als Captain America zu sehen. Da ist es nachvollziehbar, wenn Zuschauende denken, ich sei mit dem Typen praktisch identisch. Daher war es in der Tat sehr schön, mal wieder etwas ganz anderes zu machen.

Was interessierte dich an diesem Independent-Film? Das Drehbuch sprach mich sofort an. Die Beziehung von Frank, den ich spiele, zu seiner kleinen Nichte hat mich berührt. Ausserdem ist dieser Typ eine ziemlich komplexe, facettenreiche Nummer. Er stammt aus einer ebenso intellektuellen wie komplizierten Familie. Nicht zuletzt das Verhältnis zu seiner Mutter, mit der er sich ja wegen des Mädchens anlegt, ist von Schuldgefühlen, Scham und Verletzungen geprägt. Eine so interessante Figur bekommt man nicht alle Tage zu spielen.

Im neuen Film «Begabt» auf sich alleine gestellt: Die hochbegabte Mary (Mckenna Grace) und ihr Onkel Frank (Chris Evans). (Bild: Fox Searchlight Pictures)
Im neuen Film «Begabt» auf sich alleine gestellt: Die hochbegabte Mary (Mckenna Grace) und ihr Onkel Frank (Chris Evans). (Bild: Fox Searchlight Pictures)

Verfluchst du eigentlich manchmal den Ruhm, den das Superhelden-Dasein mit sich gebracht hat? Quatsch, ich habe Captain America noch nie verflucht. Aber natürlich ist es nicht immer nur toll, berühmt zu sein und überall erkannt zu werden. Deswegen verbringe ich auch so viel Zeit wie möglich in meiner Heimat Massachusetts und nicht in Los Angeles.

Warum genau? Wenn man in L.A. im Restaurant von jemandem angesprochen wird und sich nett unterhält, dann dauert es meistens nicht lange, bis die andere Person sagt: «Vielleicht könntest du ja mal das Drehbuch lesen, das ich geschrieben habe. Ich habe ein Exemplar im Auto, das hole ich mal eben.» Fast immer will jemand was von mir. Wenn sich in Massachusetts jemand freut, mich abends an der Bar zu sehen, dann will der oder die eigentlich nie etwas. Nur nett sein und seiner oder ihrer Freude Ausdruck verleihen. Das finde ich deutlich angenehmer.

Bekommst du auf Dauer schlechte Laune, wenn du immer und überall angesprochen wirst? Ich denke dann immer an meine Schwester. Die schwärmte früher begeistert für die Backstreet Boys – und tut es ehrlich gesagt heute noch. Inzwischen ist sie eine 30-jährige Frau, aber wenn sie einen der Jungs auf der Strasse treffen würde, wäre es um ihren Verstand geschehen. Da bin ich mir sicher. Und wenn ich miterleben würde, wie einer der Backstreet Boys total unhöflich und fies zu meiner Schwester ist, dann würde ich ihm natürlich eine reinhauen. Genau das führe ich mir immer vor Augen. Egal, welcher Fan mich anspricht, denke ich mir: das könnte meine kleine Schwester sein. Deswegen bin ich zu allen immer höflich!

Du bist in Hollywood bekanntlich nicht der einzige Chris. Es gibt auch noch Chris Pratt, Chris Pine … Nicht zu vergessen Chris Hemsworth, den Kronjuwel unter uns (lacht).

Dann also mal Klartext: was hast du, das die anderen drei nicht haben? (Lacht.) Oh Mann … was soll ich dazu sagen? Egal, was jetzt aus meinem Mund kommt, ich kann nur verlieren, oder?

Ich lache und weine gerne und liebe Musicals und Zeichentrickfilme.

Na gut, dann Scherz beiseite. Dann vielleicht anders gefragt, ohne die lieben Kollegen. Wie würdest du dich selbst beschreiben, wenn jemand keine Ahnung hat, was für ein Typ du jenseits der Kamera bist? Das ist auch nicht ohne, aber schon ein bisschen einfacher. Ich würde behaupten, dass ich ein sehr rigoroser Denker bin. Manchmal fast auf eine übertriebene Weise. Nicht selten bin ich geradezu überanalytisch. Ich mag es still und ruhig, denn wie die meisten Introvertierten ziehe ich mich gerne in meinen Kopf zurück. Allerdings habe ich auch gelernt, dass der eigene Verstand nicht nur ein grossartiger Ort, sondern auch ein gefährlicher sein kann. Je tiefer man in diesem Sandkasten wühlt, desto dreckiger wird man. Inzwischen weiss ich, dass es auch sehr gesund und befreiend sein kann, den Kopf einfach mal auszuschalten und nur im Moment präsent zu sein.

Anders als die meisten Actionhelden hast du keine Angst davor, auch mal eine andere Seite von Männlichkeit zu zeigen? Es ist schon lustig, dass ich so häufig irgendwelche Machos oder zumindest beinharte Kerle spiele. Denn das hat mit mir persönlich nicht viel zu tun. Ich selbst bin unglaublich emotional. Ich lache und weine gerne und liebe Musicals und Zeichentrickfilme aus dem Hause Disney. Meine so genannte «weibliche» Seite ist ein wichtiger Teil von mir, und als jemand, der mit vielen Frauen aufgewachsen ist, hatte ich damit nie ein Problem. Gleichzeitig hatte ich aber auch ein paar echte Alphamänner als Onkel. Das ist heute für meine Rollen richtig hilfreich, denn die kann ich einfach imitieren.

Verdankst du es auch deiner Erziehung, dass du heute zu den politisch meinungsstärksten und sozial engagiertesten Schauspieler in Hollywood gehörst? Ganz klar, daran besteht kein Zweifel. Ich hoffe zwar, dass ich mich auch für Gleichberechtigung einsetzen würde, wenn ich aus einer anderen Familie käme. Aber natürlich hat es mich sehr geprägt, dass meine Mutter immer schon eine engagierte Feministin war. Genauso wie es mir die Augen geöffnet hat, zwei Schwestern und einen schwulen Bruder zu haben. Es gibt nichts Wichtigeres für einen Menschen, als in seinem Umfeld Personen zu haben, die anders sind als er selbst. Nur so können Verständnis, Mitgefühl und Offenheit entstehen.

Enger Familienzusammenhalt: Chris Evans mit seiner Schwester Carly und seinem Bruder Scott. (Bild: instagram.com/scottevansgram/)
Enger Familienzusammenhalt: Chris Evans mit seiner Schwester Carly und seinem Bruder Scott. (Bild: instagram.com/scottevansgram/)

Tatsächlich hast du dich schon vor über fünf Jahren beherzt für die Öffnung der Ehe engagiert. Selbstverständlich. Ich fand es eine Schande, dass meinem Bruder in unserem Zeitalter ganz selbstverständliche Bürgerrechte verwehrt werden. Das zerriss mir das Herz, deswegen war es vollkommen selbstverständlich, dass ich immer und überall meine Meinung dazu sage. Eine noch grössere Schande ist es allerdings, dass errungene Fortschritte in manchen Teilen der USA sogar wieder rückgängig gemacht werden. Aber lass uns nicht über Politik sprechen. Unser Film «Begabt» hat es nicht verdient, dass wir mehr über unseren Präsidenten als über ihn sprechen.

Dann lass uns über deine Jugend sprechen. Warst du ein ähnliches Mathegenie wie deine Nichte im Film «Begabt»? Von Genie kann keine Rede sein, schon gar nicht in Mathe. Aber ich war ein guter Schüler. Zumindest bis mir klar wurde, dass ich das eigentlich gar nicht sein muss.

Was meinst du damit? Mit elf oder zwölf Jahren denkt man noch, dass eine schlechte Note dem Weltuntergang gleichkommt. Deswegen habe ich mich in dem Alter wirklich enorm angestrengt. Aber dann kam es mit 14 oder 15 Jahren eben doch mal vor, dass ich einen Test nicht bestand– und realisierte: oh, davon geht die Welt nicht unter. Es begann eine Zeit, in der ich mit meinen Eltern durchaus knatschte. Ich begriff, dass ich letztlich machen kann, was ich will, und das merkten sie. Sie versuchten, mit Strenge dagegen zu halten, spürten aber gleichzeitig auch, dass ich einiges an Angespanntheit verlor. Wahrscheinlich gehört eine solche Phase zum Erwachsenwerden dazu. Ich bin ja nicht der einzige, der in diesem Alter ein bisschen rebellischer wird. Allerdings wusste ich in dem Alter auch schon ziemlich genau, dass ich Schauspieler werden wollte. Daher hielt sich mein Interesse an Algebra ohnehin in Grenzen.

Chris Evans

Sechs Jahre ist es her, dass Chris Evans – 1981 als Sohn eines Zahnarztes und einer Tänzerin in Boston geboren – in «Captain America: The First Avenger» erstmals jenen Superhelden aus dem Hause Marvel verkörperte, der inzwischen zu seiner Stammrolle geworden ist. Insgesamt war er bisher fünf weitere Male als Captain America zu sehen, zuletzt im vergangenen Jahr in «The First Avenger: Civil War». Auch in «Spiderman: Homecoming» hat er dieser Tage einen kleinen Gastauftritt, kommendes Jahr folgt «Avengers: Infinity War». Doch Evans, der seine Karriere mit Filmen wie «Not Another Teen Movie» oder «Fantastic Four» begann, kann auch ganz anders. Für das Endzeit-Drama „Snowpiercer» feierte ihn die Kritik, mit «Before We Go» gab er bereits sein Regiedebüt. Und nun spielt er die Hauptrolle in der emotionalen Independent-Produktion «Begabt» (ab 13. Juli im Kino). Bei den Dreharbeiten verliebte sich Evans in seine Filmpartnerin Jenny Slate, von der er sich Anfang Jahr allerdings wieder trennte.

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