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«Überdrehte Homo­sexuelle» – Sensitivity Reading gefällig?

Kein Schreibverbot über sensible Themen

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Ein Verlag auf der Frankfurter Buchmesse (Foto: Arne Dedert/dpa)

Der dicke Nebencharakter, die sexualisierte Asiatin oder der überdrehte Homosexuelle: Klischees, die sich in Geschichten zuhauf finden – und verletzen können. Spezielle Lektor*innen können helfen.

Von Alina Grünky, dpa

Im Rückblick hätte sie es anders gemacht: «Mir ist in älteren Büchern, die ich vor etwa zehn Jahren geschrieben habe, aufgefallen, dass ich Nachholbedarf habe», sagt Autorin Anika Beer, die vorrangig in den Genres Fantasy und Science-Fiction schreibt. Ihre neuen Projekte gestaltet Beer anders – und arbeitet dafür auch mit sogenannten Sensitivity Reader*innen zusammen. Sie prüfen Texte auf verletzende oder missverständliche Darstellungsweisen.

Das ist nicht unumstritten – immer wieder flammen Debatten über mögliche Zensur auf. Auch auf der Buchmesse soll es eine Diskussion über den Druck geben, den diese Kontroverse auf Verlage ausübt. «Die alten weissen Männer und Frauen unserer Branche sind verunsichert», hatte Buchmessen-Direktor Juergen Boos vor der Messe gestanden. Sie fühlten sich «herausgefordert» von einer jungen Generation, die einen anderen Blick auf gesellschaftliche Themen habe.


«Mein erstes umfassendes Sensitivity Reading an einem kompletten Buch habe ich bei einem Verlag angefordert, als ich über eine nicht-binäre Person schrieb», berichtet Beer. Nicht-binäre Menschen identifizieren sich weder als Mann noch als Frau. «In dem Fall hatte ich einen grossen Teil des Buches schon geschrieben und wir sind dann den vorliegenden Text gemeinsam durchgegangen.» Bei anderen Projekten hat sich Beer bereits beim Erstellen des Figurenkonzepts beraten lassen.

Niemand greift in meinen Text ein

Sensitivity Reader*innen können Hinweise geben und Vorschläge machen, die Übernahme und Umsetzung erfolgt jedoch nach eigenem Ermessen, wie die Autorin ausführt. «Offen zu sein ist mir wichtig, schliesslich fordere ich die Beratung selber an», sagt Beer. «Aber niemand greift in meinen Text ein, diese Verantwortung liegt bei mir selbst.»


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Für Sensitivity Readerin Victoria Linnea ist die Motivation ihrer Arbeit klar: «Ich wünsche mir eine vielfältige Literaturwelt, in der die sonst selten gehörten Geschichten erzählt werden können», sagt sie. «Nämlich Geschichten von und mit Menschen, die am Rand der Gesellschaft stehen.» Linnea ist freie Lektorin und Gründungsmitglied des Projekts «Sensitivity Reading»: «Ich würde es als ein sehr spezielles Fachlektorat bezeichnen», sagt Linnea.

Der Klett Verlag teilt auf Anfrage mit, dass er sich seiner Verantwortung zur Darstellung von sensiblen und klischeehaft besetzten Themen sehr bewusst sei. Demnach beauftragt er unter anderem externe Agenturen mit dem Fokus auf Sensitivity Reading. Der Verlag C. H. Beck sieht dagegen bislang kein Bedarf für externe Sensitivity Reader. Laut Verlagsangaben achtet er selber darauf, dass Klischees und Vorurteile vermieden werden. Auch der Fischer-Verlag betreibt kein Sensitivity Reading, Wünsche der Autor*innen danach würden jedoch unterstützt.

Die Zusammenarbeit ist nicht immer einfach, wie Autorin Beer weiss. «Es ist nicht an jedem Tag gleich leicht, die Kritik einzustecken», erzählt sie. Manche Denkweisen seien beim Aufwachsen nun einmal eingeprägt worden. «Dadurch sind wir nicht gleich schlechte Menschen.» Es sei jedoch wichtig, dazuzulernen und dafür auch Kritik aushalten und umsetzen zu wollen.
Unterstützung oder «Sprachpolizei»?

Heisst das jetzt, alle Figuren handeln, sprechen und denken in Beers Büchern immer fehlerfrei? «Nein, das ist erstens unmöglich, und es darf selbstverständlich auch Figuren geben, die sich nicht korrekt verhalten», erklärt Beer. «Entscheidend ist, dass sie reflektiert werden. Wenn eine Figur beispielsweise diskriminierende Vorurteile hat, dann kann ihr das in der Geschichte aufgezeigt werden.» Unbewusste Diskriminierung sollte vermieden werden.

Dennoch wird immer wieder Kritik in Diskussionspanels, Kolumnen und Kommentarspalten laut, es sei eine «Sprachpolizei» unterwegs, die Schreibverbote verhänge. Das Ende von Kunst und Kultur wird beschrien, die Leser*innen seien verweichlicht. Oft wird die Frage in den Raum geworfen, was man denn überhaupt noch sagen dürfe.


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Dem setzt Victoria Linnea eine klare Aussage entgegen: «Sensitivity Reading verbietet nicht das Schreiben über sensible Themen, es bietet Unterstützung an, damit man eben über diese Themen schreiben kann», betont sie. Das werde jedoch häufig nicht verstanden – «und es wird weiter in den Kommentarspalten über vermeintliche Zensur geredet».

Die Lektorin betrachtet es als Fortschritt, wenn Menschen sich mit Diskriminierung auseinandersetzen. «Denn erst, wenn etwas besprochen wird, ist es nicht mehr unsichtbar», sagt Linnea. «So kann man Probleme angehen, die davor von der Mehrheitsgesellschaft ignoriert wurden – willentlich oder aus Unwissenheit.»

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