«Das Leben als Escort ist stressig»
Für manche ist Prostitution ein lukrativer Nebenerwerb, für andere ein notwendiges Mittel zur Existenzsicherung
Mehrere hundert männliche Escorts bieten in Zürich ihre Dienste an. Für manche ist es ein lukrativer Nebenerwerb, für andere ein notwendiges Mittel zur Existenzsicherung. Die MANNSCHAFT sprach mit zwei von ihnen über ihren Alltag als Sexarbeiter.
Fünf Jahre ist es nun her, seit der Autor Oliver Demont «Männer kaufen» veröffentlichte – ein Buch, das die Männerprostitution in der Limmatstadt beleuchtet. Spätestens seit Erscheinen dieses Buches ist es ein offenes Geheimnis: Der «Predigerhof» im Zürcher Niederdorf ist eines jener Lokale, in denen sich Sexarbeiter und Freier begegnen. Markus Stehle und Greg Zwygart verbrachten je einen Abend in der Bar, um Escorts zu treffen und sich mit ihnen über deren Beruf zu unterhalten. Was sie dabei erfuhren, schildern sie in ihren Erfahrungsberichten.
Alexi In meiner Vorstellung war alles ganz einfach: Ich würde in den «Predigerhof» hineinspazieren, auf einen der jungen Männer zugehen und ihn fragen, ob ich ihn interviewen dürfte. Offen und direkt, kein Problem. Jetzt sitze ich an der Bar des Lokals, und mein Mut hat mich verlassen. Es ist kurz vor 22 Uhr, an einem Mittwochabend Anfang März. Der Predigerhof ist relativ gut gefüllt: In der Mitte des Raums zu meiner Linken steht ein grosser, ovaler Tisch, um den zehn Männer stehen und sitzen. Die meisten von ihnen sind jung, schlank und tragen modische Kleidung, ich schätze sie auf Anfang bis Mitte zwanzig. Einige von ihnen sprechen am einen Ende des Tisches mit drei Männern mittleren Alters, vor allen steht ein Bier oder ein Longdrink. Es wird gelacht, ab und an fällt ein Spruch, gelegentlich bleibt eine Hand auf einem fremden Knie oder Arm liegen.
Am anderen Ende der Tafel sitzt ein zweites Grüppchen junger Männer, drei an der Zahl. Manchmal lassen sie ihren Blick durch den Raum schweifen, meistens aber unterhalten sie sich in einer Sprache, die ich nicht verstehe, und schauen dabei auf ihre Smartphones. Rechts von mir an der Bar noch einmal drei Männer, alle etwas älter, und schliesslich, alleine an einem Tischchen, sitzt ein einzelner Gast, der ebenfalls mit seinem Handy beschäftigt ist. Dann betritt jemand die Bar, der Neuankömmling wird mit Küsschen, einer Umarmung oder einem kurzen Satz von den anderen begrüsst. Die Stimmung ist relativ locker, die meisten hier scheinen sich zu kennen.
Was mich betrifft, so fühle ich mich etwas verloren. Mit der einen Hand umklammere ich mein Telefon, in der anderen Hand halte ich ein Bier, das ich schneller trinke als gewöhnlich. Es fällt mir nicht leicht, auf einen der jungen Männer zuzugehen. Was soll ich schon sagen? «Hallo, du bist doch sicher ein Stricher – darf ich dir ein paar Fragen stellen?» Doch dann löst sich das Problem von selbst, als neben mir plötzlich ein Mann erscheint. Er trägt Bart, ein Baseball-Cap, Jeans und T-Shirt, lächelt mich freundlich an und fragt mich nach meinem Namen. Und was ich denn hier wolle – Sex, vielleicht? Eigentlich, antworte ich, würde ich lieber mit ihm über seine Arbeit und sein Leben hier in der Schweiz sprechen. Für einen kurzen Moment hält er inne, dann meint er: «Kein Problem». Und so setzen wir uns in eine ruhige Ecke und beginnen, miteinander zu reden.
Alexi* stammt aus Sofia, der Hauptstadt Bulgariens. Er ist 33-jährig und seit Januar in der Schweiz. Sein Deutsch ist etwas gebrochen, dennoch kann man sich gut mit ihm unterhalten. «Die Sprache habe ich erst zu lernen begonnen, als ich hier ankam», sagt er. Auf meinen überraschten Gesichtsausdruck hin lächelt er und meint, er lerne schnell. «Ich lüge nicht, ganz ehrlich.» Noch im Verlauf des Monats wird Alexi in die Heimat zurückkehren – ja, er sei als Tourist hier –, doch bereits im April will er erneut in die Schweiz reisen und weiterhin nach einem Job in einem Restaurant Ausschau halten. «Ich bin gelernter Koch», sagt Alexi. «Mit der Stellensuche hat es noch nicht geklappt, deshalb arbeite ich als Escort.»
Die Frage, ob er schwul sei, bejaht er. Das ist insofern nicht selbstverständlich, als gelegentlich auch heterosexuelle Männer auf dem Schwulenstrich anschaffen. «Diejenigen Escorts, die ich kenne, sind alle gay», erklärt Alexi, und er kennt viele. Sie stammen aus aller Herren Länder, Brasilien, Marokko, Kolumbien oder der Türkei. Freundschaftlich verbunden ist er dabei mit keinem. «Wir begrüssen uns, halten einen kurzen Smalltalk – das wär’s dann, alles sehr oberflächlich.» Ob die Konkurrenz unter den Escorts gross sei, will ich wissen. «Für mich nicht – ich habe einen grossen Schwanz, das hilft», sagt Alexi lachend – und hält mir zum Beweis sogleich ein Bild unter die Nase, das den Wahrheitsgehalt seiner Aussage bestätigt.
Ich spreche ihn auf seine Kunden an. Er habe «vielleicht fünf pro Woche», so Alexi, manchmal aber auch weniger. Er empfängt sie in seinem Hotelzimmer, das er ganz in der Nähe des Predigerhofs mietet. Kostenpunkt für die Unterkunft: 100 Franken pro Nacht. «Der Geschäftsführer des Hotels weiss, was ich mache. Er bereitet mir keine Schwierigkeiten.» Im Gegenteil, der Manager sei ein netter Typ, der ihm ab und zu auch einen Kaffee spendiere. Und wie sehen Alexis Bedingungen aus? «Für eine Stunde verlange ich 300 Franken. Das beinhaltet Massage, blasen, ficken und spritzen».
Er erklärt, dass er beim Analverkehr ausschliesslich den aktiven Part übernehme, und stellt eines sofort klar: «Ich mache es nur mit Kondom.» Zwar würden sich viele potenzielle Freier dahingehend erkundigen, ob er auch ungeschützt mit ihnen schlafe. Für Alexi kommt das aber nicht in Frage. «Soll ich für ein paar hundert Franken das Risiko eingehen, krank zu werden?!» Das lohne sich nicht. «Meistens sagen sie dann, sie seien sauber – aber das glaube ich nicht», fährt er fort. Und fügt an, dass ihm aufgrund seiner Einstellung viel Geld entginge. «Wenn ich ihnen klarmache, dass ohne Kondom nichts läuft, verlieren viele das Interesse und gehen.»
Viele potenzielle Freier erkundigen sich dahingehend, ob er auch ungeschützt mit ihnen schlafe.
Seine Kundschaft besteht mehrheitlich aus bi- oder homosexuellen Männern, «viele von ihnen haben zuhause Frau und Kinder», so Alexi. «Es geht ihnen nicht immer nur um Sex, zum Teil wollen sie einfach reden.» Worüber denn, frage ich. «Immer dasselbe», lautet die Antwort. «Sie beklagen sich über ihren Job, über ihre Familien – was soll ich dazu schon sagen, ausser, dass es mir Leid tut?» Die meisten Kunden seien nett und respektvoll, Gewalt habe er noch nie erlebt, versichert er. Dennoch wird schnell klar, dass seine Arbeit eine Belastung für ihn darstellt. «Es ist katastrophal», sagt er, und macht eine spontane Handbewegung Richtung Bar, wo ein paar ältere Männer stehen. «Manchmal entsprechen die Kunden zwar durchaus meinem Typ, dann ist es okay.» Schlimm sei es aber, wenn eine «alte, stinkende Person» zu ihm komme. Ausserdem, führt er aus, sei er schon zweimal um sein Geld geprellt worden. «Einer ist nach dem Ficken einfach verschwunden, ohne zu bezahlen.» Der andere erzählte ihm, er müsse schnell zum Bankomaten, und kam nicht zurück. «Was will ich machen?», sagt Alexi und zuckt mit den Schultern.
Zigarettenpause, wir gehen nach draussen. Wie wir vor der Bar stehen, weist Alexi mit dem Kopf quer über die Strasse zum Zähringerplatz, wo eine Treppe zum überdachten Eingang der Zürcher Zentralbibliothek hochführt. «Dort habe ich schon geschlafen», erzählt er. Ich bin schockiert, woraufhin er erklärt, nun ja, er habe schon zweimal den Zimmerschlüssel verloren, und im Hotel sei die Rezeption nach 22 Uhr nicht mehr besetzt. «Dann habe ich die Nacht eben draussen verbracht.» In der Januarkälte, während Schnee fiel. Erneut zuckt Alexi mit den Schultern und meint, das sei kein Problem, «ich bin ein starker Mann». Und überhaupt – er kenne die Misere, habe schon vieles gesehen. «Das ist das Leben eines Escorts, verstehst du? Wenn die Kunden ausbleiben, dann hast du kein Geld.» So einfach sei das. «Ich weiss, was es heisst, hungrig zu sein.» Auf die Frage, was und wo er denn jeweils esse, antwortet er mit «Döner und Eistee». Die Tatsache, dass Alexi womöglich seit Wochen keine selbstgekochte Mahlzeit mehr zu sich genommen hat, hebt meine Stimmung nicht gerade, um es milde auszudrücken.
Zurück am Tisch. Alexi erzählt, wie er seine Kunden akquiriert. «Das Meiste findet online statt, auf PlanetRomeo zum Beispiel. Das funktioniert am besten.» In seinen Profilen gibt er sich klar als Escort zu erkennen. «So wissen die Leute von Anfang an, was Sache ist.» Alexi verbringt viel Zeit auf den Apps, schreibt mit potenziellen Kunden hin und her. Allzu hoch ist die Erfolgsquote nicht, «die meisten wollen dann doch nicht», meint er. Noch schwieriger sei es, die Freier im direkten Kontakt in der Bar anzuwerben.
Viele würden mit den Escorts reden, etwas trinken, zum Teil stundenlang. «Doch plötzlich heisst es, sie seien müde. Sie gehen, du selbst kannst nichts machen.» Alexi sagt es ganz unverblümt: «Escort zu sein bedeutet Stress für mich – fast jeden Tag muss ich mich fragen, ob genug Geld da ist, um das Hotel zu bezahlen, um Essen zu kaufen.» Er verdiene nicht sehr viel, «aber immer noch mehr als in Bulgarien», wie er klarstellt. In seiner Heimat arbeitet er bereits seit acht Jahren als Escort, nun geht er dieser Tätigkeit zum ersten Mal im Ausland nach. «Zuhause bin ich gelassener, weniger nervös», sagt er. «Aber ich habe dort einfach zu wenig Einkommen.» Anstrengend sind für Alexi nicht nur die finanziellen Sorgen, auch das Fehlen sozialer Kontakte setzt ihm zu. Er hat «eigentlich keine Freunde hier», wie er sagt, und so verbringt er den Grossteil seiner Tage im Hotelzimmer, für Ausflüge fehlt schlicht das Geld. «Die ganze Zeit im Zimmer – das ist scheisse.»
Schliesslich kommen wir auf seine Familie zu sprechen. Vor dieser hält Alexi geheim, dass er als Escort arbeitet. «Ich sage einfach, dass ich im Restaurant eine Stelle habe.» Auch dass er schwul ist, wissen seine Verwandten nicht. Alexi lebt alleine in Sofia, einen Freund hat er nicht. Warum er nicht out sei? Nun, so genau könne er das nicht sagen. Seine Familie hätte zwar keine Probleme mit Schwulen, meint er, und wirkt dabei noch nachdenklicher als zuvor. Trotzdem, er könne die Reaktionen nicht abschätzen. «Meine Mutter, zum Beispiel … vielleicht wäre sie traurig oder wütend». Ob ich ihn fragen dürfe, wovon er träumt? «Ich will einfach ein ruhiges Leben führen können», antwortet Alexi. «Und eine Person finden, die ich wirklich liebe.» Auch Kinder hätte er gerne. «Wenn ich gestorben bin, soll in ihnen weiterleben, was ich ihnen beigebracht habe.»
Ich danke Alexi für das offene Gespräch und beginne, meine Sachen zu packen. Dabei merke ich, dass mir die Unterhaltung von eben ziemlich nahe geht. In den letzten eineinhalb Stunden sass mir ein ausgesprochen sympathischer und reflektierter Mann gegenüber, der äusserlich stark, gleichzeitig aber sanftmütig und verletzlich wirkt. Für mich erhielten Worte wie «Sexarbeiter» oder der bisweilen salopp und abschätzig dahingesagte Ausdruck «Stricher» ein Gesicht an diesem Abend, sie wurden menschlich. Zu erfahren, welche Schicksale sich hinter diesen Begriffen mitunter verbergen, hat mich – um ganz ehrlich zu sein – betroffen gemacht. Wir stehen auf und treten in die Nacht hinaus. «Ich muss da lang», sagt Alexi, lächelt und zeigt Richtung Limmat. Wir verabschieden uns mit einer kurzen Umarmung, dann geht jeder seines Weges.
Dorin Es ist Dienstagabend, 20 Uhr. Wohl noch ziemlich früh, denke ich, als ich den Predigerhof betrete. An der Bar bestelle ich ein Bier und setze mich an das eine Ende des länglichen Tischs, der in der Mitte des Lokals steht. Zehn Stühle rundherum sollen wohl dafür sorgen, dass Gäste einfacher miteinander ins Gespräch kommen. Am anderen Ende sitzen vier junge Männer, die lebhaft in einer osteuropäischen Sprache diskutieren, gleichzeitig tippen sie etwas in ihre Smartphones oder scrollen durch irgendeinen Feed. Bulgaren? Rumänen? Sie würdigen mich keines Blickes, weder als ich mich setze, noch als mir der Barkeeper das bestellte Bier bringt. In regelmässigen Abständen erklingt der bekannte Benachrichtigungston einer schwulen Dating-App.
In der Ecke am Fenster erspähe ich den Bulgaren, mit dem Markus letzte Woche gesprochen hat. Damit ich ihn versehentlich nicht auch noch interviewe, hatte mir Markus in weiser Voraussicht dessen Facebookprofil gezeigt. An der Wand hinter mir sitzt ein schwarzhaariger junger Mann mit einem kurzen, leicht struppigen Bart, sein Blick ist ebenfalls auf das Smartphone gebannt. An einem anderen Tisch wechseln zwei ältere Männer – offensichtlich Einheimische – in unregelmässigen Abständen ein paar Worte und starren dabei auf ihre halbleeren Gläser. Ich schätze sie auf Ende sechzig.
Ich stelle mir einen Schlachtplan zusammen. Mit dem Bulgaren Alexi hat Markus bereits gesprochen. Die vier Männer an meinem Tisch scheinen zu fest mit sich selbst und ihren Smartphones beschäftigt. Der Schwarzhaarige sitzt alleine und ist sicherlich – wie alle anderen Männer hier unter 35 – nicht zum Vergnügen hier. Mit der Überzeugung, dass er hier auf Arbeit ist, spreche ich ihn an.
Wir kommen überraschend schnell ins Gespräch. Der junge Mann entpuppt sich als Türke, der für ein paar Wochen zu Besuch aus München ist. Allerdings ist sein Deutsch ziemlich schlecht und wir können uns nur bedingt verständigen. Ob er vielleicht Englisch bevorzugt? «Nein, Deutsch», sagt er. Wo er denn wohne, will ich wissen. Bei Freunden in Winterthur, erwidert er. Das macht mich stutzig, verfügen doch die meisten Sexarbeiter, die in dieser Bar anschaffen, über eine Bleibe in unmittelbarer Nähe, wohin sie sich mit einem Freier zügig zurückziehen können. In einer Stadt zu wohnen, die eine halbe Stunde Zugfahrt von Zürich entfernt ist, scheint unpraktisch. Unsere Konversation ist sehr einseitig. Ich frage, er antwortet. Manchmal besteht seine Antwort nur aus einem Lächeln und einem Schulterzucken. Dazwischen herrschen Momente betretener Stille. Ob er denn schwul sei, frage ich. Er nickt, sein Freund sei in München. Ich erzähle von mir und meinem Freund. Schweigen. Wie es ihm in Zürich denn so gefalle, was er hier denn so alles gesehen habe, will ich wissen. Ein Lächeln und ein Schulterzucken.
Ich beschliesse, mit der Tür ins Haus zu fallen. Ich würde Männer suchen, die für Geld Sex mit Männern haben. Ich sei Journalist und bereit, für ein kurzes Interview auch zu zahlen. Wieviel, fragt der Türke schliesslich. 50 Franken, antworte ich. Schweigen. «Schläfst du mit Männern für Geld?», frage ich zögerlich. Er könnte mir jetzt auch einfach eine reinhauen, denke ich mir. Er schüttelt langsam den Kopf. Er habe eine Freundin, sagt er mir.
Ich gebe auf. Vielleicht sind 50 Franken schlicht und einfach zu mickrig. Hätte er meine Fragen überhaupt verstanden? Den Verdacht, dass er als armer Tourist in der falschen Bar gelandet sein könnte, verwerfe ich wieder. Die Indizien, die dagegen sprechen, sind zu eindeutig. Wir schweigen beide vor uns hin. Kurz darauf steht er auf, nimmt seine Jacke und seine Cola und setzt sich an einen anderen Tisch.
Und was jetzt, frage ich mich. An der Konstellation hat sich nichts geändert. Die vier jungen Männer am anderen Ende meines Tisches schwatzen ununterbrochen weiter, Smartphones in den Händen, und die alten Männer starren in die nun leeren Gläser auf ihrem Tisch. Auch Alexi ist weiterhin mit seinem Handy beschäftigt. Ob sich Freier über das Aufkommen der Dating-Apps und des Internets ärgern? Oder ob sie sich ihren Escort bequem mit einem Fingerwisch nach Hause bestellen? Ich stelle mir vor, dass es in dieser Bar vor zwanzig Jahren ziemlich lebhaft zu- und hergegangen sein muss.
Fast eine Stunde vergeht, in der nichts wirklich geschieht. Ich bestelle mir ein zweites Bier, verfolge als Einziger das Eishockeyspiel im Fernseher an der Wand und spiele mit dem Gedanken, den Versuch abzubrechen. Markus hatte es ja einfach, grummle ich vor mich hin.
Alexi steht auf und geht zu den Männern an meinem Tisch. Er wechselt ein paar Worte mit ihnen. Lachen und gegenseitiges Schulterklopfen – man scheint sich zu kennen. Mir fällt auf, dass alle jungen Männer in dieser Bar eine Cola trinken. Bei den älteren Herren ist es ein Bier, ein Glas Weisswein oder ein Tee.
Ich fasse den Entschluss, Alexi anzusprechen und mich als Kollegen von Markus «zu erkennen» zu geben. Vielleicht kann er mich ja seinen Kumpels vorstellen. Doch bevor ich handeln kann, verabschiedet sich Alexi von der Gruppe, packt seine Jacke und geht. Ein Kundenbesuch?
Verdammt. Ich schüttle den Kopf über meine langsame Reaktionsfähigkeit, als ein Herr – ich schätze ihn um die 60 – die Bar betritt. Er ist grossgewachsen, mit einem vollen Schopf graumelierter Haare. Trotz kugelrundem Bierbauch macht er einen stattlichen Eindruck in seinem Mantel und dem gebügelten dunklen Hemd. Einer der vier Männer am unteren Tisch blickt augenblicklich auf und verfolgt den Herren mit seinen Augen wie ein Löwe die Gazelle, die nichtsahnend am Wasserloch trinkt. Der Mann bestellt sich ein Glas Sekt an der Bar und setzt sich – ausgerechnet –mir gegenüber. Im gleichen Augenblick rutscht der junge Mann einen Barstuhl rüber und sitzt so direkt neben ihm, die Augen immer noch gebannt auf den Neuankömmling gerichtet.
«Hallo, wer bist du? Ich bin Dorin. Sprichst du italienisch?», sagt der Jüngling, kaum hat sich der andere gesetzt, und streckt seine Hand aus. Hier wird nicht lange gefackelt. Der Mann mit dem Bierbauch spricht ausgesprochen gut Italienisch und stellt sich als Michael vor. Da sich die ganze Szene unmittelbar vor meiner Nase abspielt und ich glücklicherweise ein Jahr lang unsere dritte Landessprache gelernt habe, kann ich dem Gespräch relativ gut folgen. Dorin ist Rumäne – ein schlanker Mann mit dunklen Augenbrauen und hellbraunen Haaren, etwa Mitte zwanzig. Er bestellt sich ein Wodka-Redbull, ein fragender Blick vom Bartender wird von Michael mit einem Nicken quittiert.
«Wie alt bist du?» will Dorin wissen. Als Michael «62» erwidert, sagt er: «Ich hätte dich höchstens auf 55 geschätzt!» Der Rumäne weiss, wie man ältere Herren um den Finger wickelt. Eine ganze Weile geht das so hin und her, bis sich Michael schliesslich zu mir dreht, mir direkt in die Augen schaut, und auf Schweizerdeutsch sagt: «Der hier ist ein bisschen aufdringlich.» Erst jetzt dämmert mir, dass mich Michael für einen Sexarbeiter hält. Und Dorin sieht in mir wohl die knallharte Konkurrenz, wie sein teils verwirrter, teils verärgerter Blick verrät.
Na dann, spielen wir das Spielchen doch mit. Michael und ich stellen uns einander vor. Mehr muss ich gar nicht sagen, denn er plappert einfach drauf los. Er erzählt von der Fasnacht** in Basel, von US-Präsident Trump und fragt sich, wann man ihm wohl das Handwerk legen werde. Wir witzeln darüber, dass am Fernsehen Eishockey läuft und sich keine Sau hier drin dafür interessiere. Dorin kann einem Leid tun. Er schaut abwechslungsweise Michael und mich an und lacht, wenn wir es tun. Ein paar Mal versucht er, sich bei Michael mit einer Frage auf italienisch ins Gespräch zu bringen, doch dieser hält sich jeweils knapp, den Blick stets mir zugewandt. «Und, was bringt dich denn hierher?», fragt Michael. Ich entscheide mich dafür, ehrlich zu sein. Schliesslich bin ich nicht für Smalltalk hier und will auch nicht Dorins Geschäft vermiesen. «Ich bin ein Journalist und schreibe einen Artikel über das Treiben in dieser Bar», sage ich. «Aha!», sagt Michael laut und zeigt mit dem Finger auf mich, als hätte er es gerade erraten. Ob er nun aufsteht und geht? Im Gegenteil: Er plaudert aus dem Nähkästchen. Vielleicht suchen die alten Männer hier nebst physischer Nähe einfach nur ein bisschen Aufmerksamkeit?
Michael ist Augenarzt. «Nicht in Zürich, ehm … ausserhalb», sagt er und gestikuliert mit seiner Hand in eine unbestimmte Richtung. Er ist unverheiratet, für «dieses Beziehungsdings habe ich keine Nerven.» Seit meinem Coming-out als Vertreter der Presse geniesse ich die Angaben zu seiner Person mit Vorsicht, sie könnten gerade so gut frei erfunden sein. «È un giornalista», sagt er zu Dorin, dessen Miene sich augenblicklich aufhellt.
Michael ist oft in dieser Bar unterwegs, sicherlich jede zweite Woche. Doch zum Sex mit einem Stricher kommt es höchstens alle zwei Monate. Diesen «Spass» lasse er sich gerne 200 Franken kosten. Das Verhandeln um Preis und Angebot findet hier in der Bar statt, die Verrichtung der Dienstleistung in einem Hotelzimmer in der Nähe, wo der Escort üblicherweise wohnt. «Oft wollen sie mir einfach eine erotische Massage geben, aber das will ich nicht», sagt er. «Was willst du denn?» frage ich. «Sex, einfach nur Sex. Richtigen Sex», sagt Michael, als wäre es die selbstverständlichste Forderung der Welt. «Und einen richtigen Mann.» Was denn ein richtiger Mann sei, will ich wissen. «Einer, der nach einem Mann aussieht und den Schwanz hochkriegt.» Michael klingt wie ein genervter Kunde, der sich beim Kundendienst über ein defektes Produkt beschwert. Die Frage, ob er sich selbst denn so attraktiv finde, dass junge Männer gleich eine Latte kriegen, wenn sie ihn nackt sehen, erspare ich mir.
Dorin hat es mittlerweile aufgegeben, das Gespräch an sich zu reissen, und sitzt wie ein treuer Hund neben seinem Herrchen. Aus den Augenwinkeln sehe ich, wie seine Hand auf Michaels Oberschenkel ruht. Er will sich einen zweiten Longdrink bestellen, doch dieses Mal winkt Michael ab, als der Bartender ihn fragend anschaut. «Genug getrunken jetzt, ihr Stricher kostet schon so genug Geld», sagt er auf Deutsch. Er steht auf und geht Richtung Toilette. Dorin lässt ihn erst aus den Augen, als die Tür zuschlägt.
Inzwischen hat sich die Bar langsam gefüllt. Sowohl junge als auch ältere Männer sind da. Einige stehen herum, andere sitzen alleine an einem Tisch oder haben bereits erste Bekanntschaften gemacht.
Mit meinem kümmerlichen Italienisch versuche ich, mich mit Dorin zu verständigen. Er wohnt im Hotel um die Ecke und ist erst seit zehn Tagen in der Schweiz. Das Hotelzimmer kostet 75 Franken pro Nacht und Dorin hat heute noch kein Geld verdient. Das erklärt wohl seinen Eifer. «In Rumänien gibt es keine Arbeit und wenn es welche gibt, dann ist sie schlecht bezahlt», sagt er. Er erklärt mir, dass er bisexuell und beim Sex nur aktiv sei. Ich frage, ob er denn nie ein Problem habe mit … mir fehlen die italienischen Worte dafür und so richte ich zur Veranschaulichung einen gekrümmten Finger auf. «Nie», sagt er mit einem breiten Grinsen.
Michael kommt von der Toilette zurück, setzt sich aber nicht wieder zu uns, sondern gesellt sich zu einem jungen Mann an die Bar. Dorin hat verstanden. Schade, hätte er doch bieten können, was Michael so dringend sucht. Dorin steht auf und setzt sich an einen anderen Tisch zu einem anderen Herren. Und so beginnt das Ganze wieder von vorne. Das Verhandeln von Preis und Angebot.
** Fasching
Folgende Städte haben ein Projekt für männliche Sexarbeiter
Berlin subway-berlin.de
Dortmund neonlicht-dortmund.de
Essen nachtfalke-ruhr.de
Frankfurt KISS – frankfurt-aidshilfe.de/content/kiss
Hamburg basis-projekt.de
Köln looks-ev.de
München marikas.de
Stuttgart Café Strich-Punkt – verein-jugendliche.de
Zürich Herrmann – zah.ch
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Von Cesare Macri
LGBTIQ-Organisationen
Schweiz