«Chemsex ist eine besondere Form der Sexualität»
Die Stadt Zürich unterstützt ein Angebot des kostenlosen und anonymen Testens von Chemsex-Substanzen
Wie steht es um Chemsex in der Community und welchen Einfluss hat er auf unser Sexleben? Gibt es einen gesunden Konsum? Ein Gespräch mit Expert*innen von Checkpoint Zürich und der Stadt Zürich.
Im Checkpoint Zürich können queere Menschen ihre Substanzen, die sie vor oder beim Sex konsumieren, neuerdings kostenlos und anonym testen lassen.
Das Chemsex-Drug-Checking ist ein Novum. Klassische Drogenberatungsangebote spezialisieren sich vor allem auf den Substanzkonsum. Beim Chemsex geht es aber in erster Linie um den Sex. Beratungsstellen für sexuelle Gesundheit hingegen konzentrieren sich oft primär auf Infektionskrankheiten und haben nicht immer die Expertise über die verwendeten Substanzen. Mit dem neuen Chemsex-Drug-Checking verschmelzen nun diese zwei Fachgebiete in einem neuen niederschwelligen Angebot.
Wir sprechen mit Dominique Schori, Teamleiter bei Saferparty der Stadt Zürich, Birgit Rinderli, Sexologin & Leiterin Prävention beim Checkpoint Zürich und Benjamin Hampel, medizinischer Co-Leiter im Checkpoint Zürich.
Beginnen wir mit der Einordung. Seit der Digitalisierung hat sich das Datingverhalten geändert und auch die Substanzen unterliegen Trends. Wo steht die Community heute? Hat Chemsex zugenommen?
Benjamin: Es gibt auf jeden Fall eine Veränderung in der Wahl der Substanzen. Substanzkonsum war generell in der schwulen Community schon immer hoch, ob es einen allgemeinen Anstieg gibt ist schwer zu sagen, da man dann auch den Alkoholkonsum miteinbeziehen muss. Die Substanzen haben sich in den letzten 100 Jahren ständig geändert. Was wir sehen, ist eine eindeutige Zunahme von sogenannten Chems. Hiermit sind klassischerweise die Substanzen Methamphetamin (Crystal meth), GHB/GBL, Mephedron/3MMC und Ketamin gemeint.
Birgit: Genau. Grundsätzlich kann man sagen, dass es nicht negativ zu werten ist, wenn sich jemand als chemfriendly ausgibt. Diese Codes wie chemfriendly, PnP, H&H weisen auf den Plattformen aus, ob jemand für Chemsex offen ist. Solche Angaben zeigen lediglich eine Präferenz auf. Top, Bottom oder Versatile werden ja auch ausgewiesen, es erleichtert das Suchen nach einem Match.
Chemsex hört und liest man vordergründig nur in der schwulen Community. Besonders auf Apps sind Chemsex-Codes verbreitet, Gruppensexpartys mit Substanzen ploppen besonders am Wochenende häufig auf. Ist Chemsex auch bei heterosexuellen Menschen ebenfalls verbreitet?
Benjamin: Chemsex ist in erster Linie eine besondere Form der Sexualität. Diese beinhaltet Sex unter Männer unter bestimmten Bedingungen und kommt daher per Definition schon nicht bei heterosexuellen Menschen vor. Mir ist nicht bekannt, dass sich heterosexuelle Menschen beispielsweise auf Tinder treffen um zusammen Sex in der Gruppe unter Methamphetamin und GHB zu haben. Natürlich verwenden Heterosexuelle auch die Substanzen in Kombination mit Sex, aber nicht in diesem Setting.
Birgit: Mit sexualisiertem Substanzkonsum haben die meisten Menschen, egal welcher sexuellen Orientierung angehörig, Erfahrungen gemacht. Das Cüpli vor und oder während dem Date zum Beispiel. Chemsex unter Heterosexuellen nenne ich dann bewusst nicht Chemsex, weil dann unweigerlich andere Sexualpraktiken, Schutzstrategien, Risiken angesprochen werden. Methamphetamin, sogenannte Thaipillen, hatten vor vielen Jahren im Rotlichtmilieu eine tragende Rolle gespielt, heutzutage ist Methamphetamin im Kontext Chemsex präsent. Deshalb ist es so wichtig, ein Angebot zu schaffen welche die Zielgruppe Männer, die Sex mit Männer haben, erreicht und eine umfassende Beratung gewährleistet. Der Begriff Chemsex ist also stark auf die schwule Community geprägt.
Dominique, nun gibt es seit 7. Juli 2021 ein neues Angebot in Zusammenarbeit mit dem Drogeninformationszentrum DIZ der Stadt Zürich, und dem Checkpoint Zürich. Weshalb engagiert sich die Stadt Zürich im Bereich Chemsex?
Dominique: Zürich ist schweizweit ein Hotspot der Chemsex-Szene. Die gesundheitlichen Risiken in der Szene sind hoch, gepaart mit der Risikobereitschaft erhöht sich die Gefahr für Krankheitsübertragungen um ein Vielfaches. Exklusionen aus dem Arbeitssystem, Wohnungsverluste, erhöhter Substanzkonsum, Infektionen und psychische Beeinträchtigungen sind Entwicklungen in der Chemsex-Szene, die während der letzten Jahre zunehmend beobachtet wurden. Es existieren wenige soziale Beratungsstellen für diese Zielgruppe. Bei einigen Betroffenen führt der Konsum von psychoaktiven Substanzen während Sexpartys zu einem sehr hohen Risikoverhalten (ungeschützter Sex und intravenöser Konsum) respektive zu einer sehr starken Abhängigkeit der Kombination von Sex und psychoaktiven Substanzen. Mit ihrem Engagement in diesem Bereich möchte die Stadt den Zugang zu Informations-, Hilfs- und Unterstützungsangeboten für diese Zielgruppe erleichtern. Die Kompetenz des DIZ liegt dabei nebst der akzeptierenden Haltung vor allem im etablierten Knowhow im Bereich illegale Substanzen.
Und warum die Zusammenarbeit mit dem Checkpoint Zürich?
Dominique: Wir erachten es als wichtig und sinnvoll, interdisziplinär aufgestellt die Thematik Substanzkonsum und deren Auswirkungen auf die Sexualität niederschwellig für die Zielgruppe zu gestalten. Dies soll durch die räumliche wie auch inhaltliche Annäherung der beiden Institutionen geschehen. Personen die Chemsex betreiben, brauchen in der Beratungsstelle eine*n Berater*in, die*der Ihnen die Möglichkeit bietet, offen und wertfrei über den Substanzkonsum in Kombination mit ihrer Sexualität und ihren Sexpraktiken reden zu können. Viele Angebote für Freizeitdrogenkonsumierende in Europa sind sich der Herausforderung Chemsex bewusst und versuchen mit Information und Sensibilisierung zu einem risikoärmeren Verhalten von Menschen, die Chems beim Sex verwenden, beizutragen. Ein spezifisches Drug-Checking-Angebot für diese Zielgruppe ist aber ein Novum.
«Für viele, die mit den Chems aufhören wollen ist es schwer einen Weg zurück zur Sexualität zu finden.»
Die gesundheitlichen Risiken beim Chemsex können teilweise hoch sein. Welche Risiken sind für dich, Benjamin, als Mediziner vordergründig?
Benjamin: Das grösste Risiko ist, dass man den Zugang zur Sexualität ohne Substanzen verliert. Für viele, die mit den Chems aufhören wollen, ist es schwer einen Weg zurück zur Sexualität zu finden. Natürlich gibt es auch je nach Substanz gesundheitliche Risiken. GHB ist wahrscheinlich die illegale Substanz unter der es weltweit am meisten Todesfälle gibt, da sie sehr leicht überdosierbar ist und nicht mit anderen Substanzen, insbesondere Alkohol kombiniert werden darf. Methamphetamin kann zu schweren psychischen Schäden wie Psychosen führen und macht generell reizbarer und verringert die Frustrationstoleranz. Wer Sex auf Chems hat, geht auch höhere Risiken ein. Männer, die Chemsex betreiben haben ein fünf Mal höheres HIV-Risiko als Männer, die kein Chemsex betreiben.
Warum haben Menschen trotz Risiken Sex auf Chems?
Birgit: Weil es Spass macht. Die Verbindung der Sexualität von Substanzkonsum entspricht potenziell der Verbindung zweier aussergewöhnlichen Bewusstseinszuständen. Die Substanzen können Hemmungen dämpfen, selbstbewusster machen, Schmerzen unterdrücken oder aber auch die Performance verbessern, Orgasmen intensivieren.
Benjamin: Die Community hat ein Intimitätsproblem und die Community hat ein Einsamkeitsproblem. Chemsex oder Chems sind einfach nur ein Symptom des viel grösseren Problems.
Wo liegen weitere Schattenseiten von Chemsex?
Birgit: Grenzen oder Schmerzen werden unter Einfluss von Substanzen nicht mehr so schnell bei sich oder dem Gegenüber wahrgenommen, was Risiken bergen kann, auch was einvernehmlichen Sex betrifft. Wenn man langfristig dieses extreme Geile erlebt, kann es unbefriedigend, schwierig oder gar unmöglich sein, Sexualität ohne Substanzen leben oder geniessen zu können. Sober Sex wird nie so sein wie beim Chemsex.
Eine Einbahnstrasse?
Birgit: Harte Ansage aber wahr, wer sich an die ekstatischen sexuellen Chemsex Erlebnisse langfristig gewöhnt hat, dem muss man sagen, dass sich Sober Sex nie mehr so anfühlen wird wie Chemsex. Bei funktioneller Abhängigkeit, also dass der Sex nur noch mit Substanzen möglich, gilt es zu evaluieren, wie war der Sex vor Chemsex. Wie ist der Solosex, wird Solosex praktiziert? Was mache ich da, was könnte man ausbauen? Was hat dies alles mit meiner Muskelspannung, meiner Atmung zu tun. Die Hiobsbotschaft ist, dass viele sexuelle Probleme keine medizinischen sind. Probleme oder wahrgenommene Defizite oder Einschränkungen, welche man mit Substanzen aushebeln konnte, an solchen kann man arbeiten.
Während der Covid-19-Pandemie haben wir alle unsere Sexualität verändern müssen. Viele von uns haben viele Monate auf Nähe verzichtet, Einsamkeit und Ängste haben teilweise zugenommen. Hatte die Covid-19-Pandemie einen Einfluss auf Chemsex, wurde er mehr?
Benjamin: Auf jeden Fall! Die Angst vor einer Covid-Erkrankung hat viele nur in den ersten Wochen vor sexuellen Kontakten abgehalten. Viele denken oft, dass Chemsex in Clubs stattfindet, aber das ist falsch. Chemsex findet im Privaten statt. Clubs sind im Gegenteil Orte, wo bezüglich Susbtanzkonsum noch eine gewisse soziale Kontrolle stattfindet, und wo wir beispielsweise Präventionsarbeit leisten können, was auf privaten Partys nicht möglich ist. Tanzen und Musik ist zudem etwas, dass uns psychisch gesund hält. Viele waren in der letzten Zeit monatelang in Kurzarbeit oder haben ihre Arbeit ganz verloren. Gerade Menschen, die sonst viel und gerne arbeiten sind dadurch in ein Loch gefallen, und Chems und Sex haben vielen geholfen abzuschalten von dem Wahnsinn, der gerade auf der Welt passiert. Viele haben vor der Pandemie auch nur am Wochenende konsumiert. Wenn man aber plötzlich nicht mehr arbeiten darf, gab es für viele kein Grund, unter der Woche nicht zu konsumieren.
Birgit: Die strikten Covid-Regeln haben nahe Kontakte oder lose Sextreffen untersagt. Sexualität wird und wurde jedoch auch während der Pandemie gelebt und ist meiner Meinung nach auch ein wichtiger Bestandteil von psychischer Gesundheit. Ich kenne Klienten, die aufgrund von Homeoffice, Kurzarbeit oder Arbeitslosigkeit mehr konsumierten. Andere hingegen hielten sich strikt an die Schutzmassnahmen und schränkten somit auch ihre Kontakte ein. Die Substanz alleine ist kein Garant für ein tolles Erlebnis, die Faktoren des aktuellen Empfindens und der Ort und die Menschen, mit denen ich konsumiere, haben Einfluss auf das Erlebnis.
Wie viele Chemsex-User haben erfahrungsgemäss ihren Konsum im Griff, also ohne nennenswerte Einschränkungen im Alltag? Was sind da deine Erfahrungen im Checkpoint Alltag?
Benjamin: Das hängt von der Substanz ab und von der Definition was «im Griff» haben heisst. Wenn man es nur damit anschaut, ob jemand noch am Montag auf der Arbeit erscheint, dann habe es wohl die allermeisten «im Griff». Wenn man aber schaut, wie viele Probleme im Sozialleben oder in der Partnerschaft entwickeln, sieht es schon wieder ganz anders aus. Einen unbedenklichen oder gar gesunden Konsum gibt es nicht. Es ist immer ein Kompromiss, wie viel mir das Erlebnis wert ist. Um dies zu entscheiden, muss man aber die Risiken richtig kennen, und dabei wollen wir den Leuten helfen, ohne dass wir Schockbilder von Menschen zeigen, denen die Zähne ausfallen.
Dominique, ein niederschwelliger und vor allem moral- und wertfreier Zugang zu Informationen und eine Reduktion von Risiken. Was erhofft sich die Stadt Zürich weiter vom neuen Angebot?
Dominique: Durch ein solches Angebot möchten wir mehr über Chemsex praktizierende MSM, deren Motivation, Motive und Problemstellungen erfahren, was uns erlauben wird, zukünftige Chemsex-Angebote zu entwickeln und weiterzuentwickeln. Zudem erhoffen wir uns durch den verbesserten Zugang und das vermehrte Wissen über diese Zielgruppe eine Versachlichung der teilweise sehr spekulativen Diskussion über diese Thematik.
Birgit: Richtig. Der Name Chemsex kommt nicht von ungefähr, es handelt von Chems und Sex und erfordert im Beratungskontext unabdingbar das Adressieren beider Themen: Substanzen als auch der Sexualität. Es braucht Fachexpert*innen mit sexologischem und substanzspezifischem Background um der Thematik Chemsex gerecht zu werden, deshalb macht ein spezifisches Angebot Sinn. Auch ist es wichtig, dass sich die Klienten wohl fühlen und offen über ihr Sexualverhalten sprechen können.
«Wir hören, dass wir die Einzigen sind, mit denen die Leute reden können, ohne verurteilt zu werden.»
Benjamin: Ja genau, das was wir am meisten hören, ist, dass wir die Einzigen sind, mit denen die Leute reden können, ohne verurteilt zu werden. Auch unter Chems-User untereinander wird sehr wenig darüber geredet, warum man konsumiert oder welche Ängste damit verbunden sind. Das ist ja auch verständlich. Auf einer Sexparty will man nicht über sowas reden. Bei uns wissen sie zudem, dass sie nicht verurteilt werden und auch sagen dürfen, was sie an den Chems und dem damit verbundenen Sex toll finden. Die allermeisten Menschen, die ein Problem entwickeln finden selbst ihre Lösung, wenn sie einfach mal jemand haben, der richtig zuhört. Auf der anderen Seite können wir natürlich auch Hilfe leisten, dass man sich bei Konsum nicht mit Infektionskrankheiten ansteckt. Wir können die Reinheit der Substanzen teste, sodass nicht zusätzliche Risiken entstehen. Und wir können weitervermitteln, wenn jemand mehr Hilfe medizinisch oder psychologisch benötig, da wir alles unter einem Dach anbieten.
Mehr Informationen und Onlinebuchung: www.cpzh.ch/chemsex
Chemsex Drug Checking
Im Chemsex-Drug-Checking im Checkpoint Zürich in Kooperation mit dem DIZ wird über Wirkung und Gefahren psychoaktiver Substanzen, die vor oder während dem Sex konsumiert werden, informiert und über die Risiken des eigenen Konsumverhaltens aufgeklärt. Die Beratung ermöglicht eine genaue Aufklärung über Dosierung und Inhaltsstoffe sowie über die Auswirkungen, die diese Inhaltsstoffe haben können.
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