Rein und Raus – Geht’s beim Sex auch ohne Penetration?

Wir haben mit Experten und einem Vertreter der «No Penetration»-Fraktion gesprochen

Foto: Renate Vanaga/Unsplash
Foto: Renate Vanaga/Unsplash

Eindringen und eindringen lassen – nach Meinung vieler Menschen gehört das zum erfüllten Sexleben schlichtweg dazu. Auch unter homo- und bisexuellen Männern sind solcherlei Ansichten weit verbreitet. Ausnahmen bestätigen die Regel: Es geht auch ohne Analverkehr.

Im Internet kann man zu fast jeder Frage, die sexuelle Praktiken und Vorlieben betrifft, eine Antwort finden. Zu fast jeder. Sucht man nämlich nach Zahlen, Fakten oder Erfahrungsberichten zu Männern, die mit Männern schlafen und dabei auf Analsex verzichten, wird es schnell einsam in den unendlichen Windungen des virtuellen Datennetzes. Man verzeihe dem Autor an dieser Stelle die sich aufdrängende Analogie. Doch Spass beiseite. Glaubt man dem Gros der verfügbaren Informationsquellen, scheint es, als gäbe es besagte Gruppe von Männern einfach nicht. Warum aber ist das so? Und wie erleben diejenigen, die sich trotzdem dazu zählen, ihren sexuellen Alltag?

Mannschaft hat mit Nico, einem Vertreter der «No Penetration»-Fraktion, gesprochen und sich zudem fachlichen Rat bei der Ärztin, Sexual- und Psychotherapeutin Melanie Büttner sowie dem schwulen Wissenschaftsjournalisten Sven Stockrahm geholt. Die beiden betreiben den von der ZEIT herausgegeben Sexpodcast «Ist das normal?» und besprechen dort ohne Hemmungen, dafür aber stets fundiert, was es rund um die menschliche Sexualität zu entdecken gibt.  

Wer hats erfunden? Woher stammt eigentlich der Mythos, dass zum Sex unter Männern automatisch auch die anale Penetration gehören muss? Ein Rätsel, das nicht zu lösen sein wird, obwohl es massiven Einfluss auf unseren Umgang miteinander hat. Sowohl im Bett als auch auf Dating-Apps und in anderen Kontexten. Büttner und Stockrahm erklären: «Jeder Mensch hat ein bestimmtes Bild von Sex. Klar, sind wir dabei auch von dem beeinflusst, was wir über Sex erfahren. Und wer sich in Serien, Filmen und Pornos umschaut und informiert, findet vor allem Analsex als typische Art von schwulem Sex.»

Illustration: Sascha Düvel
Illustration: Sascha Düvel

Zwar hätten Umfragen gezeigt, dass der Grossteil Homosexueller tatsächlich Analverkehr praktiziere, doch bedeute dies im Umkehrschluss nicht, dass es nicht auch andere Möglichkeiten für Männer gebe, einander nah zu sein und sich gegenseitig zu befriedigen. «Sex ist viel mehr als ein blosses Rein und Raus. Er hat wahnsinnig viele Facetten, die manche erst nach und nach für sich entdecken. Andere nie. Die meisten schwulen Pornos zeigen die immer gleichen Spielarten», ergänzen Büttner und Stockrahm. Intimität und ausgedehnte Streicheleinheiten, bei denen man sich Zeit lässt, hätten in den meisten Mainstream-Pornoclips kaum Platz. Und was nicht sichtbar sei, werde eben auch weniger häufig gedacht, gemacht und somit auch schlechter verstanden.

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Verzicht aus Schmerz Es gibt unterschiedlichste Gründe, warum Männer weder dem aktiven noch passiven Analverkehr etwas abgewinnen können. Zu den offensichtlicheren zählt der Schmerz, der dabei auftreten kann. Die Tatsache, dass beim analen Koitus zwei Schliessmuskeln, ein äusserer und ein innerer, vom Penis durchdrungen werden, geht mit erheblichem Druck sowie starker Reibung einher. Das kann sich sowohl im After als auch am Glied unangenehm anfühlen. Auch Verletzungen sind nicht auszuschliessen.

«Leider kommen Schmerzen immer wieder vor. Wichtig ist, dass beide Partner sofort aufhören, wenn es wehtut. Manchmal hilft mehr Gleitgel, tiefes Durchatmen, bewusstes Lockerlassen oder auch ein Stellungswechsel», geben Büttner und Stockrahm zu bedenken. Sich Zeit zu lassen, sei ebenfalls ein wichtiger Faktor. «Wenn der Schmerz heftig ist oder nicht von allein verschwindet, sollte zügig medizinische Hilfe in Anspruch genommen werden. Ebenso, wenn sich ein Sexspielzeug nicht mehr entfernen lässt, es stark blutet oder der Stuhl nicht mehr gehalten werden kann», warnen die Experten.

ZEIT-Experten Melanie Büttner und Sven Stockrahm. (Bild: zvg)
ZEIT-Experten Melanie Büttner und Sven Stockrahm. (Bild: zvg)

Verzicht aus Scham Als Säuglinge oder Kleinkinder kennen wir kaum Scham. Wir schreien, wann uns danach ist, wir furzen fröhlich vor uns hin und erforschen offenkundig unsere Genitalien. Je mehr Tage aber ins Land ziehen, desto mehr Erfahrungen sammeln wir auch, was die Gesellschaft eigentlich von uns erwartet. Soziale Normen, ein Konglomerat aus unausgesprochenen Regeln und Werten, religiöse Einflüsse und die Modellfunktion unserer Bezugspersonen formen unsere Gedanken, Gefühle und Handlungen. Plötzlich überlegen wir, ob das, was wir tun, überhaupt akzeptiert ist.

Illustration: Sascha Düvel
Illustration: Sascha Düvel

Wenngleich ein Grossteil der schwulen Männer Analverkehr durchaus als das Nonplusultra sexuellen Lustgewinns definieren würde, kann dieser je nach Bezugsgruppe auch als unsauber und eklig gelten. Hinzukommt ein Aspekt, der viele Bereiche unseres Lebens dominiert: Der omnipräsente Leistungsdruck. Wer nicht wie ein Pornostar im Bett performen kann, wer keinen perfekt trainierten Apfelpo oder Riesenpenis mitbringt, grämt sich vielleicht und verzichtet lieber auf Analsex, als zum Versager degradiert zu werden. 

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Verzicht aus gesundheitlichen Gründen Mit zunehmendem Alter, aber auch aufgrund von Stress, lässt die natürliche Härte der männlichen Erektion nach. Laut einer breit angelegten Studie von Englert und Kollegen aus dem Jahre 2007 haben 28 % Prozent der 40 bis 49-Jährigen Probleme, eine Erektion zu bekommen oder diese bis zum Orgasmus aufrechtzuerhalten. In der Altersgruppe von 70 bis 79 sind es stolze 82 %. Speziell entwickelte Medikamente sollen zwar Abhilfe schaffen, sind aber aufgrund von erheblichen Risiken und Nebenwirkungen für bestimmte Betroffenengruppen ungeeignet. Neben der eben erklärten erektilen Dysfunktion können auch Erkrankungen des Darmtrakts dazu führen, dass Analsex schwierig bis unmöglich wird. Sich damit auseinanderzusetzen, dem Sex auch ohne Penetration und Höhepunkt etwas abgewinnen zu können, stellt demnach fast schon eine Art Notwendigkeit dar, wenn man sich den Spass am Liebesleben auch im Alter bewahren möchte.

«Einige Männer wollen nicht in das Klischee von Top und Bottom eingeordnet werden.»

Verzicht zugunsten der eigenen Erregung Nico ist 43 Jahre alt. Der Düsseldorfer hatte in seinem Leben bisher viermal Analverkehr. Zweimal aktiv, zweimal passiv. «Meine Erregung hielt sich stark in Grenzen. Lust entwickelte sich kaum. Die Erektion liess sich nicht aufrechterhalten. In der passiven Rolle empfand ich den Sex als unangenehm. Am Ende blieb ich physisch und mental sehr unbefriedigt zurück.» Auch in seinen Fantasien, beim Onanieren, denke Nico nicht an Analsex. «Der junge schwule Mann wird meines Erachtens schon sehr früh darauf geeicht, dass ausschliesslich mit Penetration verbundener Verkehr als Sex bezeichnet werden darf. Alle anderen Spielarten werden lediglich als Formen des Vorspiels oder besondere Präferenzen, Vorlieben oder Fetische eingestuft.»

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Verzicht aus Ablehnung klassischer Rollenverständnisse «Einige Männer wollen nicht in das Rollenklischee von Top und Bottom eingeordnet werden», sagen Büttner und Stockrahm.

«Manche glauben auch, als Homosexueller passiven Analsex zu mögen, sei unmännlich oder unterwürfig. Solche Gedanken können vorkommen, besonders in einer Gesellschaft, in der Männlichkeit noch immer mit Dominanz, Stärke und Durchsetzungsvermögen gleichgesetzt wird. Zum Glück ändert sich das aber allmählich.» Die beiden Experten betonen ferner, dass es vielmehr darauf ankomme, herauszufinden, wer man sei, und weniger, was man denke, wer man sein solle. «Wenn man glaubt, dass man als passiver oder aktiver Part stets einen Partner finden muss, der das jeweilige Gegenstück ist, kann das belastend sein. Auch die Vorstellung, beides leisten zu müssen, macht Druck. Letztlich zeugt all dies eher von einer eingeengten Sicht auf das, was Sex sein kann.»

Illustration: Sascha Düvel
Illustration: Sascha Düvel

Verzicht als Reaktion auf traumatische Erlebnisse Dinge, die uns im Leben bewusst oder unbewusst wiederfahren sind, haben teils massive Auswirkungen auf unser Verhalten. Unsere Psyche ist empfindsam. Wenn sie verletzt wird, kann uns das aus der Bahn werfen und es uns erschweren, Nähe anderer Menschen zuzulassen. Wer zum Beispiel Missbrauch, egal in welcher Form, erfahren hat, neigt manchmal dazu, Situationen zu scheuen, die alte Wunden erneut aufreissen könnten. Das kann auch das Ausführen einzelner Praktiken wie zum Beispiel die anale Penetration beinhalten.

Nein sagen dürfen «Wer seine eigenen Wünsche und Bedürfnisse beim Sex kennt, hat meist schon einen grossen Schritt getan. Auch, wenn das nicht immer einfach ist. Besonders dann nicht, wenn der Partner oder das Date dafür kein Verständnis zeigt», erklären Büttner und Stockrahm. «Wir lernen kaum, wie wir eigene Bedürfnisse formulieren können, deshalb fehlen vielen die Worte dafür.» Generell solle man beim Sex nichts tun, womit man nicht einverstanden sei. Schlussendlich mache das nicht glücklich. Sich klar zu positionieren, ist ein Grundrecht jedes Menschen. «Das wird einige Typen abschrecken, aber andere auch beeindrucken. Wer klar sagt, was geht und was nicht, zeigt Mut, Profil und Selbstbewusstsein.»

Kommunikation nimmt in jeder erfolgreichen Verbindung eine Schlüsselposition ein. Gegenseitiger Respekt und Rücksichtnahme weitere. Wie beim Einlassen auf Analsex braucht es auch für das Verständnis, dass es Männer und Frauen gibt, die diesen ablehnen, eine ausgeprägte Lust am Gegenüber, Zeit, Geduld und die richtige Vorbereitung. Vorbereitung darauf, wie man Gemeinsamkeit gestalten kann, die mit unterschiedlichen Vorstellungen und Wünschen einhergeht. Während beim Analverkehr Hilfsmittel wie Gleitgel, Dildos und Kondome eine sinnvolle Ergänzung darstellen, sind es in erwähntem Zusammenhang vielleicht Gespräche mit einer Sexualtherapeutin wie Melanie Büttner.

Die bittere Realität Sowohl in seiner Vergangenheit als auch heute musste Nico immer wieder die Erfahrung machen, dass er aufgrund seiner Sexualität abgelehnt wird: «Sobald es um das Thema Penetration geht und ich äussere, dass diese für mich weder als aktiver noch als passiver Part in Frage kommt, bemerke ich Skepsis. Oft gefolgt von Unverständnis bis hin zu unsachlichen Diskussionen oder respektlosen Beschimpfungen.» Nico belastet besonders, dass er nach wenigen Worten vom vormals begehrenswerten Mann zum «uninteressanten Individuum» herabgestuft werde. Seit über vierzehn Jahren lebe er als Single. Die Partnersuche gestalte sich nach wie vor kompliziert. «In den schwulen Medien, Diskussionsgruppen, Studien und auch in Umfragen darf dieses Thema nicht an Wichtigkeit verlieren», fordert er. «Nur so ist es möglich, dass Konventionen und Stereotype hinterfragt oder von manchen vielleicht sogar überwunden werden. Männer, die eine ‹No Penetration› vorziehen, sollten man nicht als merkwürdige Aussenseiter betrachten.»

Einmal mehr bleibt das ernüchternde Fazit zurück, dass einem Ausgrenzung auch in unserer bunten Community widerfahren kann. Dass Nichtwissen zu Vorurteilen führt und dass Kompromisse in unserer Vorstellung kaum Platz finden, da ihnen das stete Streben nach Selbstverwirklichung im Weg steht.

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