Wieder Massenproteste gegen Rechts
In Berlin wurden wieder viele Regenbogenfahnen gezeigt
Seit Wochen halten die Massenproteste gegen rechts nun schon an. Auf allein drei grossen Demonstrationen in Berlin, Freiburg und Augsburg waren am Samstag mindestens 200’000 Menschen. Was sie antreibt.
Von Verena Schmitt-Roschmann und Gisela Gross, dpa
Wildfremde halten sich an den Händen und strecken diese in die Höhe. «Wir sind die menschliche Brandmauer», schallt eine Stimme von der Bühne. Mehr als 150’000 Menschen haben sich nach Polizeiangaben am Samstagmittag in Berlin vor dem Reichstagsgebäude versammelt. Für Demokratie und Toleranz, gegen rechts, Hass und die AfD. Die Veranstalter, ein Bündnis namens Hand in Hand, sprachen sogar von 300 000 Teilnehmern. Angemeldet hatten sie ein Drittel davon. In etlichen weiteren Städten sind es am Samstag ebenfalls zum wiederholten Male ungewöhnlich viele Menschen, die auf die Strasse gehen: rund 30’000 in Freiburg, etwa 25’000 in Augsburg, circa 10’000 in Krefeld, jeweils nach Polizeiangaben. Hinzu kommen weitere Demos im ganzen Land, teils mit vierstelligen Teilnehmerzahlen.
Seit gut drei Wochen gehen überall in Deutschland immer wieder Zehntausende Menschen gegen rechts und gegen die fremdenfeindliche, homophobe AfD auf die Strasse. Auslöser ist eine Recherche des Medienhauses Correctiv zu einem Treffen radikaler Rechter mit einzelnen Politikern von AfD, CDU und Werteunion im November in Potsdam. Dort hatte der frühere Kopf der rechtsextremen Identitären Bewegung in Österreich, Martin Sellner, nach eigenen Angaben über das Konzept der sogenannten Remigration gesprochen. Wenn Rechtsextremisten den Begriff verwenden, meinen sie in der Regel, dass eine grosse Zahl von Menschen ausländischer Herkunft das Land verlassen soll – auch unter Zwang.
Erschreckt von den Ergebnissen dieser Recherche zeigt sich die Berlinerin Claudia Kirchert, die mit ihrer Tochter vor das Reichstagsgebäude gekommen ist. Die 49-Jährige spricht davon, mit der Teilnahme in der grossen Gruppe etwas gegen das Gefühl der Machtlosigkeit zu tun. «Ich wäre vor einem Jahr möglicherweise noch nicht zu so einer grossen Demo gegangen.» Die Hoffnung jetzt: Der AfD und Rechtspopulisten signalisieren, dass es ein Gegengewicht gibt. Ähnlich argumentiert Demonstrant Patrick Stein: «Ich glaube, wir haben zu lange die Klappe gehalten.» Er hat ein Schild dabei im Stil der Warnhinweise von Zigarettenschachteln: «Rassismus fügt Ihnen und den Menschen in Ihrer Umgebung erheblichen Schaden zu.»
Als die Menge den Sprechchor «Ganz Berlin hasst die AfD» anstimmt, hat ein Moderator eine andere Idee: «Ganz Berlin stoppt die AfD», gibt er vor, die Menge applaudiert und stimmt ein. Auf der Bühne sprechen viele junge Leute, mit teils migrantischem Hintergrund. In der Menge stehen auch viele mittelalte, bürgerlich wirkende Menschen und trotzen dem Regen, der anfangs nur nieselt und später heftiger wird.
Ich bin schwul. Ich wäre sicherlich eine der Gruppen, die von diesem rechtsradikalen Mob diskriminiert würde
Zu sehen sind bunte Fahnen, Grauhaarige mit Schildern gegen Deportationen, Tanzende, etliche Familien mit Kindern. Und auch einige, die sich als Betroffene der rechtsextremen Fantasien sehen: «Ich bin schwul. Ich wäre sicherlich eine der Gruppen, die von diesem rechtsradikalen Mob diskriminiert würde», sagt der 59-jährige Armin Dötsch, der am Morgen als einer der ersten in roter Jacke und mit Schildern des Sozialverbands SoVD vor Ort ist. Er betont auch: Man müsse den sozialen Kitt der Gesellschaft halten und verbessern.
Serkan Bingöl ist mit einer Gruppe Geflüchteter gekommen, um ihn herum stehen vier, fünf junge Männer. Der 36-jährige ist Berliner mit deutschem Pass und Gymnasiallehrer. Er sagt: «Wir wollen ein Zeichen setzen für Solidarität und dass wir gegen Diskriminierung sind. Und dass wir es schön finden, wenn weiterhin eine Gesellschaft mit Vielfalt statt Einfalt in Deutschland existiert.»
Unverständnis gegenüber Menschen, die in der AfD eine Lösung für ihre Unzufriedenheit sehen, äussern an diesem Tag mehrere der befragten Menschen. Ein Schild bringt es so auf den Punkt: «Wenn die AfD die Antwort ist, wie dumm war dann die Frage?» Der 27-jährige Stefan Morlock hofft auf eine mehr als symbolische Wirkung der Demos auf Gesellschaft und Politik: «Das Handeln zeigt sich einerseits bei den Wahlen, aber auch im Alltag. Dass man sich einsetzt für die Schwächeren in der Gesellschaft.»
Mehrere Redner richteten Forderungen an die demokratischen Parteien, sich gegen den Rechtsruck zu stellen und rechten Forderungen und Narrativen entgegenzutreten. Luisa Neubauer, Gesicht der deutschen Klimabewegung, sagte laut Redemanuskript: Man könne nicht an einem Tag auf der Demo «Friede, Freude, Demokratie für alle» rufen und dann ins Parlament zurückkehren und tief rechte Wörter, Sprache und Politik in die demokratische Mitte hineintragen. «Das geht nicht auf.»
In das Berliner Regierungsviertel waren schon einmal am 21. Januar nach Angaben der Polizei mehr als 100’000 Demonstrant*innen gekommen. Der Bundestag, seit 1999 mit Sitz im umgebauten historischen Reichstagsgebäude, ist zentrales Symbol der bundesdeutschen Demokratie.
Bundeskanzler Olaf Scholz wertete bereits vorab die zahlreichen geplanten Demonstrationen gegen rechts an diesem Wochenende als «starkes Zeichen» für die Demokratie und das Grundgesetz.
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