Vom Zaubersport zur queeren Nische – Von Quidditch zu Quadball
Der Dachverband, die International Quidditch Association (IQA), kündigte dieses Jahr die Umbenennung an
Quidditch wurde erfunden von einer als transfeindlich kritisierten Schriftstellerin – und wird nun von einer queer-inklusiven Community jenseits der Harry-Potter-Welt gespielt. Was macht den Nischensport so LGBTIQ-freundlich? Und wie sehen das queere Spieler*innen? Ein Besuch beim Schweizer Nationaltraining.
Ein kühler Morgenwind weht über den Sportplatz am Rande Zürichs. Die Spieler*innen wärmen sich gerade für das Schweizer Quidditch-Nationaltraining auf. Sie dehnen, hüpfen, sprinten, schnaufen. Am Rande des Spielfelds liegen, neben einem Haufen Kunststoffrohren, ihre Sporttaschen; eine «Ehe für alle»-Tasche ist zu sehen, ein paar Meter daneben eine, auf der das Emblem von Hogwarts prangt, der Zauberschule aus den Harry-Potter-Romanen. Dort spielt der Protagonist auf seinem fliegenden Besen Quidditch, mit teils verzauberten Bällen. Harry ist Sucher: Seine Aufgabe ist es, den goldenen Schnatz zu finden – diesen kleinen, flinken Ball mit filigranen Flügeln gibt es nur einmal im Spiel. Der Ball versucht jedem Fang zu entfliehen. Wird er gefangen, ist das Spiel vorbei.
Vor 17 Jahren ist der Fantasiesport in den USA in die Realität übertragen worden. Die Sportart ist zu einer Mischung aus Völkerball, Handball und Rugby avanciert. Mittlerweile weist «Muggle-Quidditch» mehr Unterschiede als Gemeinsamkeiten mit dem Zaubersport im Buch auf. Mit Muggles sind in den Harry-Potter-Büchern übrigens wir Normalsterblichen ohne Zauberkräfte gemeint. Ähnlich wie im Handball werfen Teams Bälle durch die Torringe des gegnerischen Teams. Wie im Völkerball können gegnerische Spieler*innen abgeworfen werden. Gleichzeitig werden Gegenspieler*innen regelkonform zu Boden getacklet. All das tun Quidditch-Spieler*innen, während sie eine ein Meter lange Plastikstange zwischen den Beinen halten – ein Element, das vom fliegenden Besen in den Büchern stammt, allerdings auch in der aktualisierten Variante Geschicklichkeit erfordert: Dieser Broom hat zur Folge, dass beim Rennen meist nur eine Hand frei ist.
Weltweit ein echter Sport Am Nationaltraining sind die Spieler*innen fertig mit dem ersten Teil des Aufwärmens, kehren kurz zurück zu den Taschen, greifen zu ihren Trinkflaschen, manche zu ihrem Zahnschutz. Dann packen sie pro Person je ein Kunststoffrohr und laufen wieder aufs Feld. Auf manchen Sportshirts und so einigen Stirnbändern sind Regenbogenfarben zu sehen.
Wer im echten Leben über echtes Quidditch reden will, wird bald mal mit der Frage konfrontiert: «Ah, das gibt es als echten Sport?» Die Antwort lautet grösstenteils ja. Und zu einem kleinen Teil auch nein.
Ja, Quidditch existiert in zahlreichen Ländern als echter Sport. Allein schon im deutschsprachigen Raum gibt es Dutzende von Teams, von den Braunschweiger Broomicorns bis zu den Düsseldorf Dementors, von den Basel Basilisks bis Phönixe Solothurn, von den Graz Grimms bis zu den Vienna Vanguards. Im Zwei-Jahres-Rhythmus findet der IQA World Cup statt (Rekordweltmeister sind die USA). Alternierend dazu werden die Europameisterschaften durchgeführt. Zusätzlich spielen die besten Teams jedes europäischen Landes jährlich um den Europapokal. Auch ausserhalb Europas und der USA wird dem Quidditch gefrönt, etwa in Argentinien, Australien, Hongkong, Uganda und Peru. Neben herkömmlichen Erwachsenenteams gibt es vereinzelt auch Kinder- und Jugendteams, etwa in Zürich und Luzern. Im Juli 2023 ist Quidditch Teil des Sportprogamms bei den EuroGames Bern, am 31. Juli 2022 war Anmeldestart (MANNSCHAFT berichtete).
Echtes Quidditch – oder eben Muggle-Quidditch – gibt es also. Aber: Quidditch macht einiges anders als andere «echte» Sportarten. Und zwar so anders, dass auch Leute mitspielen, die lange nichts mit Sport anfangen konnten. Zum Beispiel Menschen aus der LGBTIQ-Community.
Gender ist ein offenes Feld Oli Mennel von den Turicum Thunderbirds hätte früher eigentlich ganz gerne Fussball gespielt. Aber die Teams waren aufgeteilt zwischen Frauen und Männern, und Oli ist nichts davon. «Ausserdem war es sehr kompetitiv», kommentiert Oli. Mittlerweile gibt es für manche Sportarten FINTA-Teams, also Teams für Frauen, inter, nichtbinäre, trans und agender Menschen; «aber von aussen wird ein FINTA-Team oft als Frauensport wahrgenommen», sagt Oli. «Für manche von uns nichtbinäre Personen hinterlässt das ein ungutes Bauchgefühl. Viele wollen nicht einfach Teil einer vermeintlichen Frauen-Erweiterung sein.» Während Oli diese Gedanken äussert, ist ein Grossteil der Sportwelt nur schon mit binären Identitäten überfordert: Der Umstand, dass binäre trans Menschen, also trans Männer und trans Frauen, in den richtigen Sportteams spielen dürfen, wird kontrovers diskutiert. Vor allem die Teilnahme von trans Frauen in der Kategorie «Frau» im Leistungssport ist laut umstritten. Nicht-binäre Identitäten kommen in dieser Diskussion kaum vor – zu sehr ist die Sportwelt in Mann und Frau eingeteilt. Genauer: in cis Mann und cis Frau. Während schwule, lesbische und bisexuelle Sportler*innen sich immer öfters outen können, wird vielen trans Sportler*innen die Teilnahme in den korrekten Kategorien strukturell und gesellschaftlich erschwert. Im Laiensport gibts hingegen viele queere Formen: LGBTIQ-Teams in ganz unterschiedlichen Sportarten sind in zahlreichen Städten zu finden, und Sportarten wie Roller Derby sind dezidiert trans-inklusiv.
«Im Quidditch ist es einfacher, die Angabe des Geschlechts als das Team zu wechseln.»
Quidditch funktioniert anders. Der Vollkontaktsport ist seit seiner Gründung 2005 gemischtgeschlechtlich. In einem Spiel sind pro Team zuerst sechs, dann sieben Spieler*innen auf dem Feld. Dabei gilt die sogenannte Gender Rule: Pro Team dürfen nur vier Personen des gleichen Geschlechts gleichzeitig auf dem Feld stehen. Also zum Beispiel vier Frauen, ein Mann, eine nichtbinäre Person und eine agender Person. Oder zwei Frauen, drei Männer und zwei nichtbinäre Personen. Oder, hypothetisch gedacht, sieben verschiedene Identitäten jenseits von Mann und Frau. Was gilt, ist die Selbstbezeichnung der einzelnen Menschen. Vor Turnieren füllt jede*r Spieler*in eine Anmeldung aus, und «Gender» ist ein offenes Feld. Was dort reingeschrieben wird, gilt. Oli lacht: «Im Quidditch ist es einfacher, die Angabe des Geschlechts zu wechseln, als das Team zu wechseln.»
Breite Oberschenkel sind von Vorteil Die Gender Rule bleibt allerdings auch in der Quidditch-Welt nicht undiskutiert. Während ein Grossteil des Sports ein vergnügenbasiertes Nischendasein führt, sind die Topteams kompetitiver – und spielen oft mit dem Maximum an vier Männern. «Braucht die Gender Rule eine Reform?», fragt dazu etwa das MUS, das «Magazin des Unpopulären Sports». Dabei geht es weniger um die kompetitiv und cis-normativ angelegte Frage, ob eine Männermehrheit unfair ist, sondern mehr um die Vielfalt. Quidditch will vielfältig sein. Das zeigt sich im Übrigen auch in den unterschiedlichen Rollen: Manche Funktionen innerhalb eines Teams erfordern Körper, die Raum einnehmen und mit vollem Gewicht angreifen können. Andere Funktionen erfordern Flinkheit. Die Torringe sind unterschiedlich hoch und können so von unterschiedlich grossen Menschen verteidigt werden. Und der «Broom», also das Kunststoffrohr, hält bei denjenigen besser, die breitere Oberschenkel haben. Taktisch denken und Geschicklichkeit beweisen müssen alle.
Hinzu kommen weitere Aspekte, die in so mancher anderen Sportart fehlen: An vielen Turnieren sind die Toiletten genderneutral beschriftet (und wenn nicht, werden sie von den Spieler*innen gender-anarchisch genutzt). Oft gibt es auch Care-Teams, die der Unterstützung des Wohlbefindens und der psychischen Gesundheit der Spieler*innen dienen. Regenbogenfarben, Einhörner und Pride-Flaggen tauchen an zahlreichen Stellen der Quidditch-Welt auf. Und die Gender Rule zieht queerfreundliche Menschen an.
«Die Regeln helfen», bestätigt Eliane Wyss, Präsidentin der Basel Basilisks. «Aber natürlich geht es auch um die Atmosphäre. Quidditch ist so designt, dass eine Vielfalt von Menschen mitspielen kann. Ich hatte hier null Bedenken, mich als trans Frau zu outen.» Trans Frauen, die sich wohlfühlen, ist das Gegenteil davon, was Harry-Potter-Autorin J. K. Rowling in den vergangenen Jahren vertrat (MANNSCHAFT berichtete). Die 56-jährige Britin hetzt immer wieder gegen trans Menschen, spezifisch gegen trans Frauen. Dabei reihen sich ihre Haltung und ihre Wortwahl in das wachsende Phänomen von «TERFs» ein, «trans-exclusionary radical feminists». Schon mehrmals setzte Rowling trans Frauen mit Männern gleich, gelegentlich sogar mit Sexualstraftätern. Mit fast 14 Millionen Follower*innen auf Twitter erreichen die Fehlinformationen der Schriftstellerin ein riesiges Publikum. Harry-Potter-Stars wie Daniel Radcliffe und Emma Watson haben sich schon öffentlich von Rowling distanziert (MANNSCHAFT berichtete). Und auch in der queeren Community ist längst umstritten, ob die Harry-Potter-Welt noch genossen werden soll und kann. Oli sieht die Diskussion pragmatisch: «Hauptsache, Rowling kriegt kein Geld. Ich kauf einfach keinen offiziellen Harry-Potter-Merch, von dem sie profitieren könnte. Ausserdem find ich es ganz gut, dass Quidditch für das bekannt ist, was Rowling hasst: trans Inklusivität. In your face!»
Im rechtlichen Graubereich Eliane kam nicht als Rowling-Fan zu Quidditch, sondern durch einen Kumpel. «Klar hab ich als Kind die Bücher gelesen, aber ich hing nie besonders daran. Ich habe Verständnis für Leute, die das Werk und die Autorin voneinander trennen. Ohnehin ist unser Quidditch recht weit weg vom Buch: Der fiktive Sport wäre nicht praktikabel.» Fidel Studer von den Turicum Thunderbirds ergänzt: «Wir haben Quidditch quasi verbessert. J. K. Rowling hat den Fantasiesport so gestaltet, dass er Sportkenner*innen aufregt. Dass es den Sport jetzt in der Mugglewelt gibt – in seiner queerfreundlichen Form –, ist gut, gerade weil es nicht im Sinne der Autorin ist.» Man sagt, Rowling sei überhaupt nicht einverstanden damit, dass Quidditch kein Fantasiesport geblieben sei. Vielen queeren Spieler*innen gefällt diese Vorstellung: Eine der transfreundlichsten Sportarten entwickelte sich aus dem Werk einer transfeindlichen Person.
Trotzdem, oder gerade deswegen, ist das mit den Begriffen nicht so einfach beim echten Quidditch. In Teilen der Community, etwa im US-amerikanischen Raum, wird ein Namenswechsel des Sports gefordert: etwa Quadball, Quickball oder Quadraball. Manche begründen das mit der erwähnten Transfeindlichkeit der Autorin. Anderen wiederum geht es um Finanzen: Der Name «Quidditch» wurde von Warner Bros. markenrechtlich geschützt. Damit bewegt sich die Quidditch-Community in einem juristischen Graubereich, was es der Nischensportart weltweit erschwert, Werbung zu machen oder etwa an Sponsorengelder zu kommen. Es kam beispielsweise schon vor, dass Turniere nicht genug Geld hatten, um Livestreams zu schalten; Schiedsrichter*innen können nur knapp und symbolisch entlöhnt werden.
Aber Quidditchspieler*innen finden immer einen Weg: einen Weg vom Zaubersport zum Vollkontaktsport. Einen Weg, in einer transfeindlichen Sportwelt transfreundlich zu sein. Einen Weg, mit wenig Geld eine internationale Community aufzubauen. Und einen Weg, auch die unrealistischsten Details wahrwerden zu lassen: Der magische Schnatz, der in den Büchern (teils tagelang!) durch die Luft flitzt, existiert in der Muggle-Version ebenfalls. In einem Beutel, der mit einem Klettverschluss über dem Hintern einer rennenden Person angebracht ist. Im Gegensatz zum Buch bleibt der Schnatz im Spielfeld. Wer ihn fängt, beendet das Spiel. Was Sinn macht, hat im Quidditch eben doch Bestand.
Update: Am 19. Juli 2022 hat die IQA die offizielle Umbenennung der Sportart bekanntgegeben: Quidditch wird zu Quadball, teilte der Deutsche Quidditchbund mit. Es werde noch viel Zeit brauchen, bis der komplette Prozess der Umbenennung abgeschlossen sein werde.
EuroGames Bern 2023
Quidditch ist eine der über 20 Sportarten, die bei den EuroGames Bern 2023 angeboten werden. Europas grösster LGBTIQ-Sportanlass ist offen für Erwachsene ungeachtet ihrer Leistungsklasse, Geschlechtsidentität oder sexuellen Orientierung.
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