Tash Sultana: «In meinem Leben gibt es nur Extreme»
Ihr neues Album «Terra Firma» entstand im Lockdown
Bis zur Pandemie war Tash Sultana pausenlos auf den Bühnen der Welt unterwegs. Im Lockdown entstand das neue Album «Terra Firma», das ein wenig sanfter und verspielter klingt als das Debüt «Flow State». Jetzt brennt der australische Weltstar darauf, wieder aufzutreten.
Mit drei Jahren bekam Tash Sultana die erste Gitarre vom Grossvater geschenkt. Später spielte Tash Strassenmusik in Melbourne und wurde 2016 mit dem Video zu «Jungle» zur Sensation in den sozialen Medien. Inzwischen ist Tash – übrigens ein Mensch, der sich wie Sam Smith als nonbinär, also weder als Frau noch als Mann, definiert – 25 und auf dem Weg zum Weltstar schon sehr weit gekommen. Über LGBTQ-Themen, so lässt das australische Talent vor dem Gespräch ausrichten, solle nicht gesprochen werden. «Ich mache einfach meine Kunst und halte nichts davon, in Schubladen gesteckt zu werden», lautete vor einiger Zeit die Ansage zu dem Thema.
Tash, wie hast du 2020 empfunden? Als einen einzigen ewig langen Tag, der sich dahinzog wie ein labbriger Kaugummi. Das Leben war unglaublich beschränkt, ich konnte meine Familie nicht sehen, nirgendwo hingehen, praktisch nichts machen – ausser Musik. Ich konnte 200 Tage lang praktisch ohne Unterbrechung an «Terra Firma» arbeiten. Das war ein wahnsinnig grosser Luxus und letztlich auch ein Geschenk. Viele meiner Freund*innen haben seit einem Jahr keine Arbeit und kein Geld.
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«Terra Firma» unterscheidet sich deutlich von deinem ersten Album «Flow State». Die Stücke klingen entspannter, meditativer, offener und ein bisschen psychedelisch. Was hat dich angetrieben? Vor «Flow State» hatte ich ja noch nie ein Album gemacht. Ich nahm damals einfach all diese Songs auf, die ich bei Shows und auf der Strasse in Melbourne über die Jahre gespielte hatte. Das war sehr leicht für mich. Der Haken war, dass ich nun komplett blank war und keine Songs mehr übrighatte. Ich musste bei null anfangen, und dann fiel mir natürlich nichts ein. Schreibblockade. Was für ein Mist.
Ich hatte keine Songs mehr übrig.
Und dann? Lieder entstehen bei mir oft aus Sounds. Also schnappte ich mir ein Instrument nach dem anderen und spielte einfach los. Mein Studio ist voller Musikinstrumente: Schlagzeuge, Piano, Sitar, Keyboards, natürlich Gitarren – dieses Buffet aus Klängen liegt mir zu Füssen. Ich probierte so lange daran herum, bis ich drei, vier Songs hatte, die mir gefielen. So war die Tür geöffnet und der Rest ging wie von selbst.
Sind Studio und Wohnhaus bei dir unter einem Dach? Nein, ich halte die beiden Bereiche getrennt, um nicht noch mehr in meiner Arbeit zu versacken und auch mal Feierabend machen zu können. Naja, praktisch sah es so aus, dass ich acht Monate lang im Studio hockte und schrieb, schrieb, schrieb. Fast gut, dass kein Sozialleben stattfand, denn ich hätte eh nicht viel davon mitbekommen. Ich zog mich komplett in die Einsiedelei zurück.
So ging es wohl den meisten Menschen im letzten Jahr. Das ist wahr. Es ist schon komisch. 2018 und 2019 war meine Welt riesengross, ich war nie zuhause, sondern immer auf der Bühne. Fast jeden Tag in einem anderen Land. Ich war erschöpft und sehnte mich unbeschreiblich nach meinem Zuhause, nach einer richtigen Pause. Ich brauchte dringend Zeit für mich selbst. Und jetzt, da das Album fertig ist, wird mir langweilig. Weil einfach extrem wenig los ist da draussen. Scheinbar gibt es in meinem Leben nur Extreme. Und momentan bin ich extrem gelangweilt.
Wie schlägst du denn aktuell die Zeit tot? Ich verbringe sehr viel Zeit mit meiner Partnerin und unserem Hund. Wir leben mitten in der Natur, direkt am Strand. Mindestens einmal am Tag gehe ich surfen.
Kirk Hammett, der Gitarrist von Metallica, erzählt, dass Surfen und Gitarrespielen für ihn zwei Leidenschaften sind, die sich ideal ergänzen. Ist das bei dir ähnlich? Nein. Bei mir trifft das Gegenteil zu. Surfen und Musikmachen sind bei mir strikt voneinander entkoppelt. Musik ist mein Leben. Ich spiele Musik, weil ich nichts auf der Welt mehr liebe. Aber das Surfen ist meine Entspannung von der Musik. Draussen im Ozean denke ich nur an die nächste Welle.
Delfine sind nett. Die beissen keinen.
Und an den nächsten Hai? (Lacht.) Sie sind da, das weiss ich. Allerdings neigen die Haie hier in Melbourne nicht dazu, Menschen zu attackieren. Im Moment halten sich superviele Delfine hier im Meer auf. Die sind nett. Die beissen keinen.
Ist die Farm, auf der du lebst, dein «Terra Firma», also dein «festes Land»? Ein bisschen, ja. Obwohl, ich will ehrlich mit dir sein: Im Moment sieht es im Garten richtig scheisse aus. Wir haben die Gartenarbeit ziemlich schleifen lassen, erst kam das Album und dann diese Lethargie. Es ist ein wenig peinlich, wir müssen dringend was im Garten tun. Mein Onkel hat den für mich angelegt. Wir haben Zucchini, Kürbisse, Passionsfrüchte, es war wirklich krass was los dort – vor einem Jahr. Wir ernteten und ernteten und waren stolz und glücklich. Gemüse wachsen und gedeihen zu sehen und schliesslich zu essen oder zu verschenken, ist eine coole, irgendwie schwer erwachsene Sache.
Das tut dir schon ganz gut, so ein bisschen zur Ruhe gekommen zu sein, oder? Ja, das ist schon wahr. Ich schrieb «Jungle», meinen grossen Hit, kurz nach der Highschool. Ich war erst 18 und wurde ziemlich rasant zu einem, wie die Leute sagen, Phänomen – auf der Strasse und im Internet. Dabei war ich zu der Zeit gerade erst ein wenig stabiler geworden. Ich bin als Kind ziemlich verrückt gewesen, habe mir mit 13 den Schädel rasiert und driftete mit 17 in die Drogenabhängigkeit. Ich nahm alles ausser Heroin. Der Entzug war zwar erfolgreich, aber ich weiss, dass meine Psyche speziell ist und ich auf mich aufpassen musst. Daher werde ich bestimmt in zwanzig Jahren für diese Zeit des Ausruhens sehr dankbar sein.
Wer ist eigentlich jene «Pretty Lady» aus deiner gleichnamigen Single? Och, niemand bestimmtes. Die Nummer ist die älteste auf dem Album, ich hatte sie ein bisschen vergessen und habe sie jetzt fürs Album überarbeitet. «Pretty Lady» gibt es schon seit 2014, also seit der Zeit, wo ich auch «Jungle» schrieb. Ich habe «Pretty Lady» oft auf der Strasse gespielt – die Nummer kam immer gut an.
Manchmal kannst du die Dinge deutlicher sagen, wenn du ruhiger und zurückhaltend bist.
Insgesamt spielst du auf «Terra Firma» weniger Gitarrensolos. Woran liegt das? Ich habe bewusst versucht, nicht wieder so sehr auf der Gitarre loszuschreddern und permanent krass abzufetzen. Es gibt einige Solos, aber sie sind subtiler. Die Gitarre ist so sehr ein Teil von mir, dass ich nicht jedes Mal das Verzerrungspedal durchtreten muss, um das unter Beweis zu stellen. Ich wollte auf dieser Platte lieber ein paar Geschichten erzählen und den Leuten nicht ständig mit Anlauf ins Gesicht springen. Manchmal kannst du die Dinge deutlicher sagen, wenn du ruhiger und zurückhaltend bist.
Welche Geschichte erzählst du in «Greed»? Als ich mit der Musik anfing, war es schwer, überhaupt Leute in meine Shows zu bekommen. Selbst für fünf Dollar nicht, und manchmal nicht einmal, wenn ich für Gotteslohn spielte. Aber jetzt hauen mich Leute andauernd um kostenlose Tickets oder am liebsten VIP-Pässe an, die behaupten, in der Schule meine besten Freund*innen gewesen zu sein. Das ist natürlich alles gelogen. «Greed» handelt also davon, dass du für manche Leute nur wichtig und interessant bist, wenn du was erreicht und es irgendwie geschafft hast. Und das finde ich einfach nur zum Kotzen. Meine echten Freund*innen sind übrigens noch genau dieselben wie vor zehn Jahren.
Die neuen Stücke sind schon lässig und auch verträumt und durchaus gefällig. Man hört deutliche Einflüsse aus Funk, Jazz, Hiphop und Soul. Und alles klingt stark nach den Siebzigerjahren. Mann, das ist alles, was ich gehört habe in letzter Zeit. Aretha Franklin, Pink Floyd, The Eagles, Fleetwood Mac. Ich bin voll auf die Seventies abgefahren. Das Album ist sehr offen und keinem Genre wirklich zuzuordnen. Nur eins ist mir wichtig: Pop ist es nicht.
Auch von deiner Lebenseinstellung her scheinst du auf die Sechziger- und Siebzigerjahre zu stehen. Wieviel Hippie steckt in Tash Sultana? Oh, ich habe die 68er-Bewegung und die Hippies immer sehr verehrt. Das war eine sehr bedeutende Freiheitsbewegung damals, ich liebe diese Ära. Die jetzige Epoche ist ähnlich, nur wissen das viele noch nicht. Mich macht es glücklich, dass unsere Gesellschaft immer aufgeschlossener und akzeptierender wird gegenüber Menschen, die anders sind als die meisten. Ich bin überzeugt, dass ein paar Populist*innen die positiven Veränderungen nicht aufhalten werden.
Gruppenmasturbation als Form von «male bonding» für Heteros?
Worum geht es in der sehr melodischen Nummer «Crop Circles»? Um den Tod. Tatsächlich habe ich furchtbare Angst davor, zu sterben. Ich habe lange gebraucht, überhaupt zu akzeptieren, dass ich irgendwann nicht mehr bin, dass man das Leben nie ohne den Tod bekommt. Ich hielt das schlicht für eine Zumutung, obschon es natürlich eine Binsenweisheit ist. Nach und nach beginne ich zu begreifen, dass es ein Ende des Lebens gibt.
Im Spätsommer stehen einige Konzerte von dir auf dem Programm. Denkst du, die finden statt? Ich tue mich noch schwer damit, wirklich schon darüber nachzudenken. Das Leben wird ein anderes sein. Die globale Pandemie hat den Kurs unserer Zukunft verändert. In hundert Jahren werden Kinder im Geschichtsunerreicht über die grosse weltweite Seuche von 2020/21 lesen. Mir persönlich fehlt die Bühne mittlerweile mehr als alles andere. Ich fürchte, wenn ich dieses Jahr gar nicht mehr spielen kann, dann flippe ich aus.
«Terra Firma»
erschienen am 19. Februar 2021. Lonely Lands, Sony Music Australia
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