Süchtig nach dem Nervenkitzel: «Rodeo»

Tolle Neuentdeckung: Julie Ledru

«Rodeo» (Bild: Raphaël Vandenbussche)
«Rodeo» (Bild: Raphaël Vandenbussche)

Mit «Rodeo», der Geschichte der jungen Motocross-Fahrerin Julia legt die 1989 in Paris geborene Regisseurin Lola Quivoron ihren ersten langen Spielfilm vor. Das Drehbuch schrieb sie gemeinsam mit ihrer Lebensgefährtin Antonia Buresi, die auch eine tragende Nebenrolle im Film spielt. Wir trafen Quivoron zum Interview in Paris.

Frau Quivoron, Sie selbst sagen über Ihren Film «Rodeo», er sei nicht realistisch, sondern surrealistisch. In welchem Sinne meinen Sie das? Anders als es vermutlich zunächst klingt. Mir war es bei diesem Film wichtig, so nah wie möglich heranzukommen an die Wahrheit der Figuren und vor allem so intensiv wie möglich die Energie einzufangen, die in dieser Welt der Motocross- und Motorrad-Rennen herrscht, um die es in «Rodeo» geht. Ich wollte so realistisch wie irgend möglich sein, ohne dass es mir um ein blosses Abbild des echten Lebens ging. Denn naturalistische Filme langweilen mich in der Regel. Stattdessen wollte ich so nah ran, dass wir den Realismus hinter uns lassen und die Sache irgendwie über-natürlich wird. Dann wird es doch erst wirklich interessant.

Das müssen Sie noch ein wenig erklären bitte… Ich wollte weiter gehen als in meinem dokumentarischen Kurzfilm «Au loin Baltimore», in dem ich auch schon diese Welt gezeigt hatte. Noch näher ran, alles noch grösser machen, die Bilder, die Farben, die Nahaufnahmen. Diese Nähe und Körperlichkeit, bei der man die Poren der Haut sehen kann, das ist für mich Kino. Denn wenn ich in einem Film nicht etwas erleben kann, was sich grundlegend von meinen Alltagserfahrungen unterscheidet, was ist dann überhaupt der springende Punkt? Der surrealistische Einschlag und die gelegentliche Nähe zum Fantasy-Genre, die in «Rodeo» spürbar sind, passen für mich aber auch gut zu meiner Protagonistin. Sie ist jemand, die sich hybride zwischen Realität und Traum bewegt, zwischen Weiblichkeit und Männlichkeit, und diesem Gefühl von Transzendenz und Spiritualität musste der Film unbedingt gerecht werden.

Wie sind Sie überhaupt mit dieser illegalen Motorrad-Rennszene in Berührung gekommen? Das war 2015, als ich noch mitten in meinem Regiestudium war. Ich suchte Anschluss in dieser Gemeinschaft, nicht weil ich selbst unbedingt solche Rennen fahren wollte, sondern weil mich dieses wilde Freiheitsgefühl und vor allem das Gefühl von Kameradschaft begeisterten. Auch weil der Unterschied zu meinem Alltag im engen Paris kaum grösser hätte sein können. Ausserdem suchte ich natürlich Material für besagten Kurzfilm. Ich habe viel Zeit mit diesen Jungs verbracht, habe gefilmt und Fotos gemacht, wir sind herumgereist und haben Grillpartys veranstaltet. Frauen waren auch dabei, aber praktisch nie als Fahrerin, sondern immer nur als Begleitung, die hinten mit auf dem Motorrad sass.

Doch eines Tages sah ich auch mal ein Mädchen mit ihrem eigenen Bike, die mindestens so aggressiv und brutal fuhr und auftrat wie die Kerle. Zwei oder drei Mal war sie dabei, dann wieder verschwunden. Aber meine Phantasie war in Gang gesetzt – und so nahm «Rodeo» seinen Ursprung.

Auch Julie Ledru, die nun die Hauptrolle spielt, ist keine professionelle Schauspielerin, sondern stammt aus dieser Motorrad-Welt, nicht wahr? Richtig, ich entdeckte sie auf Instagram, als ich gezielt nach weiblichen Motorradfahrerinnen suchte. Sie liess sich auf ein Treffen ein, und irgendwie war unsere erste Begegnung wie ein kleines Wunder.

Wir redeten stundenlang, rauchten endlos viele Zigaretten und hatten wirklich eine Wellenlänge. Ich erkannte mich selbst in ihr wieder, in ihrer Einsamkeit und ihrer Wut. Und sie schien nicht nur mich zu verstehen, sondern auch die Filmfigur, von der ich ihr erzählte. Wir haben uns dann über einen langen Zeitraum immer wieder ausgetauscht, und ich habe sehr vieles, was sie mir über sich selbst verraten hat, in das Drehbuch einfliessen lassen.



Ist die Figur Julia im Film also vor allem eine Art Alter Ego von Julie? Oder letztlich auch von Ihnen? Die Inspirationen für diese Figur sind sehr vielfältig, worauf ich auch bewusst geachtet habe, denn das letzte, was ich wollte, war eine Heldin, die irgendwie langweilig und eindimensional, womöglich eine Karikatur ist. Julie und ihre persönlichen Erfahrungen haben dem Skript natürlich einen grossen Stempel aufgedrückt, aber genauso speist es sich auch aus meiner Sicht auf die Welt, den Texten, die mich beeinflussen, und meinem Selbstverständnis als Transfeministin und nicht-binärem Menschen, der von der Welt immer zunächst als Frau begriffen wird.

Daher die von Ihnen schon erwähnte Hybridität der Figur… Genau. Die verdankt sich nicht zuletzt meiner Lektüre des Werks «Ein Apartment auf dem Uranus. Chroniken eines Übergangs» des spanischen trans Philosophen und Queer-Theoretikers Paul B. Preciado. Durch dieses Buch habe ich begriffen, dass ich nicht einfach Frau oder Mann bin, sondern eine fluide Person. Oder besser: eine Energie. Das war etwas, was ich – auch im Sinne des besagten Freiheitsgefühls – meiner Heldin Julia auf jeden Fall mitgeben wollte.

Apropos Freiheitsgefühl, eine vielleicht banale Frage zum Schluss: sind Sie selbst denn je mit einem dieser Motorräder gefahren? Ich empfand es als meine Verpflichtung, das zu tun, um diese Geschichte erzählen zu können. Diese Geschwindigkeit wollte ich mal spüren, all das Adrenalin, was da ausgeschüttet wird, aber auch das enorme Gefühl der Verletzlichkeit. Denn diese Dinger bestehen ja aus kaum mehr als allerlei Plastikteilen und einem echt starken Motor, was sie unglaublich gefährlich macht. Ich wollte meine Julia einfach so gut wie möglich verstehen können. Und ja, ich weiss jetzt, warum man süchtig wird nach diesem Nervenkitzel. Auch wenn ich persönlich Fahrzeuge mit vier Rädern und etwas mehr Stabilität doch bevorzuge.

«Rodeo» feierte seine Weltpremiere 2022 in Cannes, nun startet der Film am 13. Juli in den deutschen Kinos.

In Österreich gibt es mittlerweile in fast allen grossen Städten Regenbogenparaden mit Tausenden Teilnehmer*innen. Am Samstag wird im Pinzgauer Dorf Unken die vermutlich kleinste Pride im deutschsprachigen Raum abgehalten (MANNSCHAFT berichtete).

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