Warum das Vermeiden bestimmter Wörter mehr schadet als nützt

Die Folgen der Angst, dass man jemanden diskriminieren könnte

Bild: Chris Benson, Unsplash
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Aus Angst, man könnte jemanden diskriminieren (und damit selbst sofort in der Kritik stehen), wird ein Wort (z.B. schwul) vermieden, das mühevoll als Selbstbezeichnung erkämpft wurde und in diesem Fall ganz eindeutig keine Diskriminierung wäre.

«Was hat es mit deinem Ohrring auf sich? Willst du das erzählen? Gibt’s da was zu erzählen?» Seit dreieinhalb Stunden spricht Politikjournalist Hans Jessen schon über sein Leben. Er ist zu Gast im Podcast «Jung & Naiv» und jetzt gerade sind die Publikumsfragen dran – und die Frage nach seinem Ohrring ist eine davon.

Ja, gibt’s da was zu erzählen? Über den Ohrring? Nein, eigentlich nicht. Er habe den Ohrring schon seit über 40 Jahren, weil er ihm einfach gefalle. «Keine weitere Bedeutung.» Obwohl: «Er hat mir in früheren Zeiten gelegentlich Partnerschaftsanfragen eingetragen, die nicht meine Baustelle waren.»

Es wird nachgefragt: «Gibt‘s da noch diese Seitenregel? Hast du da vorher dran gedacht? Es gab doch immer diese Seitenregel. Damit könnte man was symbolisieren.» Hans Jessen verneint. «Weder so rum noch so rum.» Nächste Frage.

Was ist hier gerade passiert? Vermutlich nichts, was jemanden bei einem fast vierstündigen Gespräch über Politik überhaupt auffallen würde. Interessant ist auch nicht, was gesagt wurde, sondern was nicht gesagt wurde. Es wurde hier über die alte Regel gesprochen: Ohrring links: hetero. Ohrring rechts: schwul. Aber warum wird das Wort nie ausgesprochen und so geheimnisvoll drum herum orakelt? Ist das Zufall? Oder wird das Wort «schwul» – bewusst oder unbewusst – vermieden?

Dieses kleine Beispiel zeigt eine sehr interessante Entwicklung, die ich schon einige Male beobachtet habe: Aus Angst, man könnte jemanden diskriminieren (und damit selbst sofort in der Kritik stehen), wird ein Wort vermieden, das mühevoll als Selbstbezeichnung erkämpft wurde und in diesem Fall ganz eindeutig keine Diskriminierung wäre.

Wer heute das Wort «schwul» vermeidet, um auf Nummer sicher zu gehen und andere zu schonen, tut letztlich das Gegenteil. Er schafft eine Atmosphäre, die mir sagt: Sprich es nicht aus. Umschreibe es. Sag es so, dass es die einen verstehen, die anderen aber nicht.

Eine codierte, vermeidende Sprache ist heute aber nicht mehr notwendig, weil Homosexualität nicht mehr unter Strafe steht. Bestraft wird man heute, wenn man ein Wort verwendet, das von anderen als diskriminierend empfunden werden könnte. Deshalb: Lieber vermeiden.

Vorsichtig mit Worten umzugehen ist heute Ausdruck einer liberalen Sicht auf die Menschen und deren Gleichwertigkeit. Es kann aber auch dazu führen, dass aus vorsichtig ein übervorsichtig wird, wenn man aus Unsicherheit über die Frage des «Darf man das noch sagen?» lieber vermeidet als ausspricht.

Es ist wie mit dem Ohrring: Das Aussprechen oder Vermeiden bestimmter Wörter sagt etwas über einen aus. Das Vermeiden des Wortes «schwul» aber hilft niemandem. Was hilft, ist das selbstbewusste Aussprechen. Auch von Menschen, die es selbst nicht sind. Und genauso wie es der pathetische Satz «Worte sind Taten» sagen will: Keine Worte sind es auch.

Peter Fässlacher
Peter Fässlacher

Peter Fässlacher

Er ist Moderator und Sendungsverantwortlicher bei ORF III und Stimme des Podcasts «Reden ist Gold» über die Liebe und das Leben mit Menschen der LGBTIQ-Community. Er lebt in Wien.

[email protected] Illustration: Sascha Düvel

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