«Schubladen sind für Menschen unglaublich wichtig»
Interview mit Bill Kaulitz
Das neue Video zu «Boy Don’t Cry» von Tokio Hotel feiert am 10. Oktober Premiere. Darin tritt Sänger Bill Kaulitz in Drag auf. Mit der Mannschaft spricht der 28-Jährige über die Botschaft des Songs für die LGBTIQ-Community und über die Besessenheit vieler Menschen, seine sexuelle Orientierung zu erfahren.
Bill, im Video zu «Boy Don’t Cry» sieht man dich in Drag. Wie kam es dazu? Ursprünglich hätte ein Schauspieler diesen Rolle übernehmen sollen. Im Gespräch mit dem Regisseur kamen wir dann auf die Idee, dass es viel geiler wäre, wenn ich die Figur selber spielen würde. Die Thematik der Selbstverwirklichung lag mir nämlich besonders am Herzen. Es geht um einen Mann, der sich aus einem emotionalen Tief rettet, indem er als Frau befreit tanzen geht. Das ist auch die zentrale Botschaft des Songs: Dass man sich selbst rettet oder sich retten lässt, indem man die Welt mit anderen Augen sieht.
Und, wie war deine Erfahrung in Drag? Sehr lustig, wir hatten ganz viel Spass am Set. Alle suchten sich ein Outfit aus und experimentierten mit verschiedenen Perücken. An dieser Stelle muss ich sagen, dass wir eine sehr coole Stylistin hatten, die für alles zu haben war. Überhaupt war das ganze Set eine einzige Party und in keiner Weise gestellt. Alle, die im Video mitgemacht haben, sind Freunde aus Berlin, die eigens für den Dreh aufgetaucht sind.
Im Song kommt ein einziges Wort auf Deutsch vor: «All she wants to do is tanzen.» Sprichst du mit «she» deine Drag-Persona an, die nur tanzen möchte, oder geht es um jemand anderes? Die anfängliche Idee zum Song war eine Begegnung mit etwas Ausserirdischem – eine weibliche Erscheinung, die einen rettet. Daher passte die Aufmachung in Drag ganz gut. Die rettende Figur kann natürlich irgendjemand oder irgendetwas sein, zum Beispiel eine Stimme aus deinem Inneren, die dich zum Tanzen auffordert.
Kaum ein deutscher Star wird so von Fans belagert und verfolgt wie du. Kannst du dir vorstellen, in Drag aus dem Haus zu gehen, um unerkannt zu bleiben? (Lacht.) Dann würde ich bestimmt noch mehr auffallen! Aber ich habe mich tatsächlich schon verkleidet, um unerkannt nach draussen gehen zu können, etwa mit Sonnenbrille, Jogginghose, Mütze und einem aufgeklebten Schnurrbart. So war ich zum Beispiel letztes Jahr am Weihnachtsmarkt unterwegs. Doof ist es allerdings, wenn man erkannt wird und die Fans Fotos mit dir machen wollen. Dann stehst du da mit deinen lächerlichen Klamotten. Das sieht nicht cool aus (lacht).
Angeblich sollen Fans in eurem Müll gewühlt und eure gebrauchten Ohrenstäbchen und Wattepads benutzt haben. Sind eure Fans immer noch so, oder sind auch sie erwachsen geworden? Der Fan mit den Wattestäbchen hatte doch nicht mehr alle Tassen im Schrank! Solche Fans gibt es immer noch, aber mittlerweile wissen wir, wie wir mit ihnen umzugehen haben. Es gab eine Zeit, da fühlten wir uns in unserer Bewegungsfreiheit dermassen eingeschränkt, dass unser Erfolg einem Gefängnis gleichkam. Auch heute achte ich noch darauf, wie viel ich zum Beispiel mit einer Story auf Instagram preisgebe.
Es gab eine Zeit, da kam unser Erfolg einem Gefängnis gleich.
Ich poste meine Fotos erst, wenn ich den Raum oder das Hotel verlassen habe. Einige Fans sind schon extrem. Sie analysieren das Sofa auf dem Bild oder den Raum, in dem man sich befindet, und versuchen herauszufinden, wo wir gerade sind. Diese Fans bilden aber die Ausnahme, die meisten sind sehr rücksichtsvoll.
Eure Promoterin hat mir gesagt, dass es euch sehr wichtig sei, mit dem Video zu «Boy Don’t Cry» auch die LGBTIQ-Community anzusprechen. Weshalb? Ich glaube, dass sich viele Menschen in der Community mit der Botschaft dieses Songs identifizieren können. Es geht darum, die Andersartigkeit zu leben und sich von seinen Zwängen zu befreien, um so aus seinem Tief herauszukommen. Die Freiheit, die Person zu lieben und die Kleidung anzuziehen, die ich will, ist für mich als Künstler unerlässlich. Dazu gehört aber auch viel Selbstbewusstsein und eine Portion Mut.
Diese Freiheit hast du dir ja schon genommen, als du mit Tokio Hotel vor über zehn Jahren berühmt geworden bist. Mit Make-up und langen Haaren hast du gesellschaftliche Rollenbilder auf den Kopf gestellt. Geht man heute entspannter mit dem Thema um? Ich denke, schon ein bisschen. Wir kommen gesellschaftlich weiter und werden offener. Jedes Jahr geht es ein kleines Stück vorwärts. Bei mir spielt sicherlich auch das Alter eine Rolle. Ich habe das Gefühl, dass Menschen mich als Erwachsenen mehr respektieren, was mein Äusseres betrifft. Als Jugendlicher ist das etwas ganz anderes. Ich musste jeweils von der Schule abgeholt werden, weil man mich aufgrund meiner Frisur zusammenschlagen wollte. Solchen Dingen habe ich mich jeweils aber immer gestellt. Wenn man mir sagte, das darfst du nicht, habe ich es noch extremer gemacht. Ich habe mit meinen Freiheiten also auch provoziert.
Vor drei Jahren hast du in einer Kolumne geschrieben, dass du immer noch an die grosse Liebe glaubst, und dass das Geschlecht dabei keine Rolle spielt. Ist die Welt besessen von Geschlechtern? Absolut. Schubladen sind für Menschen unglaublich wichtig. Ebenso die Frage, ob ich jetzt mit einem Mann oder mit einer Frau nach Hause gehe. Das ist das Erste, das mich Leute fragen, sobald sie etwas angetrunken sind. Die Menschen werden wahnsinnig, wenn sie das nicht wissen.
Das Erste, was Leute wissen wollen, sobald sie etwas angetrunken sind, ist, ob ich jetzt mit einem Mann oder mit einer Frau nach Hause gehe.
Die Medien schreiben oft spöttisch über dich. Das Magazin FHM nahm dich zusammen mit Beth Ditto in seine Liste der «100 Unsexiest Women» auf. Hast du mittlerweile eine dicke Haut, was solche Schlagzeilen angeht? Ich habe solche Dinge nie an mich rangelassen, sicherlich auch wegen des Supports, den ich in meiner Familie schon immer hatte. Ich stamme aus einer Künstlerfamilie und durfte mich zuhause immer ausleben. Es gab keine Verbote oder Anfeindungen, was Klamotten und Frisuren betrifft. Mit dreizehn Jahren hatte ich mein erstes Piercing, mit fünfzehn mein erstes Tattoo.
In der Schule hatte ich den Vorteil, dass ich immer auf meinen Zwillingsbruder Tom zählen konnte. Wir waren unser gegenseitiges Back-up, sozusagen. Weil wir aber beide aneckten, hatten wir es trotzdem schwer. Mit fünfzehn Jahren konnte ich auf der Bühne stehen und es wurde einfacher. Obwohl mir mit der Aufmerksamkeit auch viel Hass entgegenschlug, gab mir der Erfolg die nötige Sicherheit.
In Interviews hast du gesagt, euer aktuelles Album «Dream Machine» sei euer Traumalbum. Niemand redete euch rein und ihr habt gemacht, was ihr wolltet. Liessen euch die Produzenten gerne gewähren? Oder war es ein Kampf, sich von der Leine loszureissen? (Lacht.) Weder noch! Nach unserem letzten Album hatten wir die vertraglichen Vorgaben unserer Plattenfirma erfüllt und waren damit zum ersten Mal richtig frei. Wir hatten also keine Plattenfirma und kein Management. Es gab keine Meetings und wir mussten keine Erlaubnis einholen, nichts. Wir machten erst einmal Musik und machten uns mit dem fertigen Album auf Partnersuche. Das war sehr schön.
Trotzdem singst du auf dem Song «Easy», dass früher alles einfacher gewesen sei, als man auf dem Rücksitz des Autos Gras geraucht habe. Was war früher sonst noch alles besser? Ach, es ist doch alles am schönsten, wenn man es zum ersten Mal macht! Der erste Joint, der erste Kuss, das erste Ecstasy (lacht). Im Song geht es um die Unbeschwertheit der Jugend, und dass man diese Unbeschwertheit bewahren will. Man verliebt sich nur einmal zum ersten Mal. Eine Ausnahme ist vielleicht der Sex. Der wird besser, je mehr man darüber weiss (lacht).
Bei der Produktion des Albums hattet ihr Angst, alles schon erlebt zu haben und nichts Neues fühlen zu können. Hat sich diese Angst bestätigt? Ich hatte vor allem vor dem Album die Krise. In meinem Alter sind andere erst einmal fertig mit der Uni und beginnen zu arbeiten. Oftmals hatte ich das Gefühl, dass, wenn ich morgen sterben würde, es nicht sehr dramatisch wäre, da ich alles schon gemacht habe und es ein geiles Leben war.
Man kann es mit einer Midlifecrisis vergleichen, die man normalerweise erst mit 40 hat. Bei uns kam sie eben früher.
Man kann es mit einer Midlifecrisis vergleichen, die man normalerweise erst mit 40 hat. Bei uns kam sie eben früher. Aus dieser Krise heraus schrieb ich den Song «Something New». Es geht darum, dass man Dinge neu erleben und wahrnehmen kann. Es ist alles eine Frage der Perspektive, die sich durch Freunde, eine neue Liebe oder eben dadurch ändert, dass man die Welt mit anderen Augen betrachtet.
Letzte Frage: Im Song «Dream Machine» geht es um eure Träume. Was ist dein grösster Traum? Das ist schwierig, ich habe wahnsinnig viele! Ich möchte unbedingt einmal heiraten. Ich habe erst kürzlich festgestellt, dass dem so ist. Ich würde gerne eine eigene Modelinie und einen eigenen Nachtclub aufbauen, das sind meine Träume. Das waren aber mehr als einer (lacht)!
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