Rollerderby – mit Glitzerhelm und blauen Flecken
Die Sportart funktioniert wie Rugby, nur ohne Ball
Der amerikanische Nischensport Rollerderby hält sich schon seit über 20 Jahren. Er zieht auffällig viele Queers an – zwei Spieler*innen erzählen, warum.
Etwas verwirrt stand Purple Pain am Hotelempfang. Für ein Spiel war sie nach Wien gefahren. Nun wollte sie in das Zimmer einchecken, das ihre Mitspielerin für sie beide und weitere Teammitglieder gebucht hatte. Die Person am Empfang fragte nach dem Namen der Mitspielerin, und der erste Impuls von Purple Pain war, zur Antwort zu geben: Sin Sister. So nannte sie sie beim Sport, an den Spielen, an den Afterpartys. Bis ihr der bürgerliche Name ihrer Mitspielerin wieder einfiel, musste Purple wirklich kurz gut überlegen. Im Nachhinein lacht sie darüber: Rollerderby ist so fest Teil von Purples Leben, dass die Übernamen des Spiels ebenfalls ein Teil davon sind. Purple heisst eigentlich anders: Valérie Jost. Und Valérie liebt Rollerderby.
Am Vormittag unseres Gesprächs ist diese Liebe gut sichtbar. Ans Interview kommt Valérie gross bepackt, mit zwei Rucksäcken, einem glitzernden Helm dran, einem Koffer und einem Paar Rollschuhe über den Schultern. Die Schnürsenkel sind regenbogenfarben, und der Strap, der diese zwei Skates zusammenhält, ebenfalls. Nach diesem Gespräch wird Valérie von Zürich nach München reisen an ein Rollerderby-Spiel. «Das Niveau des Spiels wird hoch sein», erzählt sie, während sie ihr Gepäck hinstellt und sich auf einen Stuhl setzt, «ich werde wohl etwas überfordert sein. Aber das ist okay, man lernt immer was».
«Pain» ist passend Vor vier Jahren war Valérie noch nicht Purple Pain. Sie kannte Rollerderby knapp von «Whip it», einem Film aus dem Jahr 2009 mit Elliot Page in der Hauptrolle. Auf Facebook wurde ihr einige Zeit später ein Probetraining der Zürcher Teams angezeigt – «erst da habe ich gecheckt, dass es das in Zürich überhaupt gibt».
Valérie ging hin, machte nach dem Schnuppertraining den Anfänger*innen-Kurs, bestand die Sicherheitsprüfung und wurde Teil des B-Teams. Als es um den Spielerinnen-Namen ging, durchforstete sie einfach ihre Playlist und blieb bei «Purple Rain» von Prince hängen. «Lila mag ich eh, Prince ist queer wie ich und Pain ist ja auch passend wegen der vielen blauen Flecken, die es gibt.» So fand Purple Pain zu ihrem Namen. Und zu ihrem Sport.
Eurogames Bern 2023
Rollerderby ist eine der über 25 Sportarten, die bei den Eurogames Bern 2023 angeboten werden. Europas grösster LGBTIQ-Sportanlass ist offen für Erwachsene ungeachtet ihrer Leistungsklasse, Geschlechtsidentität oder sexuellen Orientierung.
Auf die Teilnehmenden wartet ein vielseitiges Programm. Die Eurogames Bern 2023 starten am 26. Juli mit der traditionellen Eröffnungszeremonie: ähnlich wie bei den Olympischen Spielen marschieren Athlet*innen nach Ländern ein. Die Organisator*innen haben dafür die Berner Innenstadt vorgesehen, um bei der Lokalbevölkerung möglichst sichtbar zu sein.
In den folgenden zwei Tagen steht Sport auf dem Programm, dies in den Sporthubs Wankdorf und Weissenstein sowie in weiteren Sportstätten innerhalb der Stadt Bern. Am Samstag, 29. Juli, geht es mit der Bern Pride weiter. Nach der Pride 2000 und der Pride Ouest 2017 ist es erst das dritte Mal, dass in der Bundesstadt eine Pride stattfindet. Nach dem Demonstrationsumzug durch die Innenstadt sorgt ein Festival auf dem Bundesplatz für den krönenden Abschluss der Eurogames und der Bern Pride.
Rollerderby ist wie Rugby, nur ohne Ball und auf Rollschuhen. Das muss erklärt werden, denn besonders bekannt ist der Sport nicht. 4700 Vereine dürfte es weltweit ungefähr geben, über 60 Teams existieren im deutschsprachigen Raum: von den Meatgrinders Bremen über die Fearless Bruisers Innsbruck bis zu den Hellveticats Luzern. In der Datenbank sind 38 851 Namen von Spieler*innen registriert.
Gefahren wird auf Rollschuhen mit vier Rollen, Schoner schützen Knie, Ellbogen und Hände; dazu tragen Spieler*innen einen Helm, der auch die Funktion der spielenden Person anzeigt, und Zahnschoner. Diese Sportart bedeutet Vollkontakt.
Fahrende Menschenknäuel Je länger man ein Derbyspiel erklärt, desto komplizierter wird es: Zwei Teams fahren im Gegenuhrzeigersinn auf einer ovalen Bahn – genannt «Track». Jedes aktiv spielende Team besteht aus fünf Personen – die Gruppe aus bis zu 14 Spieler*innen –, eine Partie setzt sich aus zwei halbstündigen Hälften zusammen. Innerhalb dieser je 30 Minuten gliedert sich das Spiel in höchstens zweiminütige Einheiten, nach denen die aufgestellten Spieler*innen ausgewechselt werden. In diesen sogenannten kurzen Jams gilt es einerseits für eine Person pro Team, gegnerische Spieler*innen zu überrunden, und andererseits für die Gegner*innen, die entsprechende Person daran zu hindern.
Offensive und Defensive passieren gleich- und wechselseitig und vor allem: rasant. Wer zum ersten Mal ein Spiel beobachtet, sieht mehrheitlich fahrende Menschenknäuel. Welche Körperregionen durch Bodychecks aufgehalten und welche Körperregionen dafür eingesetzt werden dürfen, ist deutlich geregelt.
Das Regelwerk umfasst über 80 Seiten. Um die 20 Leute sind pro Spiel beteiligt, die keine Spieler*innen sind. Sie reparieren rasch Markierungen am Boden, zählen die meist dreistellige Punktezahl, überprüfen das Spiel und – mit der sogenannten Penalty Box – sogar einzelne Spieler*innen.
Kein Wunder, braucht es da Schiedsrichter*innen. Zum Beispiel Dani Pine aka The Grim Squeaker. Dani ist seit acht Jahren als «Ref» tätig, als Schiedsrichter*in auf Rollschuhen während des Spiels. «Das ist auch viel Statistik und Papierarbeit», schildert Dani, «und zwar unter Gleichgesinnten. Meine Arbeit als Ref wird von den Spieler*innen wertgeschätzt und ich bin damit Teil des Teams. Ein Teil, der auch vielen Nerds und neurodivergenten Leuten zusagt.» Für Dani war der Gedanke, Sport zu machen, erst weit weg gewesen: «Nach jahrelanger intensiver Elternarbeit und einer Magenbypassoperation war es nicht leicht, mich wieder rauszutrauen. Aber eine Freundin von mir spielte Rollerderby in Australien und schwärmte immer.»
Dani überwand sich an einem Probetraining teilzunehmen und begegnete motivierenden und einfühlsamen Menschen. «Und es waren alle sehr verschieden. Im Rollerderby gibt’s nicht nur die typischen sportlichen Figuren, sondern Körper aller Formen.» Nach dem Probetraining war klar, dass es weiterging: Dani wurde sofort einbezogen, begann neben den Trainings auch die Zeit an Spielen zu stoppen. «Als alleinerziehende Mutter hatte ich zu dem Zeitpunkt nicht viele soziale Kontakte. Nun konnte sogar mein Sohn manchmal mitkommen, handhabte das Scoreboard bei Spielen, fuhr gelegentlich auch Rollschuh mit uns», erzählt Dani und lacht dann: «Anfangs dachte er, um Rollerderby spielen zu dürfen, müsse man eine Lesbe sein.»
Inszenierte Rempeleien Nein, um Rollerderby spielen zu dürfen, muss man keine Lesbe sein. Gleichzeitig ist der queere Anteil unter den Spieler*innen hoch – und der Anteil Frauen ebenfalls.
Das hängt mit der turbulenten Geschichte des Sports zusammen. Von den 1930er- bis 1970er-Jahren war Rollerderby, ähnlich wie Wrestling, in den USA ein Publikumsmagnet. Die Spiele waren geschlechterdurchmischt und basierten zu Beginn auf Zweierteams und Rempeleien. Zehntausende wurden durch diese inszenierten Brutalitäten in die US-amerikanischen Stadien gelockt. In den Siebzigerjahren ging der Sport allerdings unter.
Um die Jahrtausendwende haben Riot Grrrls den Sport wiederbelebt. Aus der Schnittmenge der Hardcore-Punk-Szene und feministischen Subkulturen entstanden grosse Teile von dem, was heute als Rollerderby gilt: Ein kämpferischer Vollkontaktsport, der körperliche, geschlechtliche und sexuelle Vielfalt radikal akzeptiert. Rollerderby ist ein Gegenentwurf zu cis-männlichen Sportnormen – aber nicht per se ein Frauensport. Erstens, weil trans bis cis Männer in inoffiziellen Spielen mitspielen dürfen. Zweitens, weil Männer in Rollen von Schiedsrichtern und als Helfer aktiv sein können. Und drittens, weil im Rollerderby nicht-binäre Spieler*innen ausdrücklich willkommen sind.
Für Dani war das ein innerer Prozess. «Als ich angefangen habe mit Rollerderby, war ich gerade dabei rauszufinden, dass ich mich nicht wirklich als Frau bezeichnen würde, auch wenn ich als Frau gelesen wurde und einfach eine Spielerin hätte sein können. Aber das fühlte sich nicht richtig, nicht fair an. Als würde ich schummeln – schliesslich habe ich mich noch nie als Frau gefühlt. Da war es praktisch, Schiedrichter*in zu sein, weil diese Funktion von allen Genders ausgeführt wird.
Was zählt, ist Selbstidentifikation Die Dachorganisation, die ironischerweise «Women’s Flat Track Derby Association» (WFTDA) heisst, hat sogar vor einigen Jahren ein «Gender Statement» publiziert.
«Die WFTDA setzt sich für inklusive und antidiskriminierende Praxis in Bezug auf alle transgender Frauen, intergeschlechtlichen Frauen und geschlechtsexpansiven Teilnehmerinnen ein» heisst es dort. Selbstidentifikation sei das, was an inoffiziellen wie auch offiziellen Rollerderby-Anlässen zähle. Das steht im Gegensatz zu den seit Jahren laufenden Diskussionen im Mainstream-Spitzensport, wo nur schon die Existenz binärer trans Sportlerinnen die Vorstellungen der Sportwelt herausfordert.
Viele Rollerderby-Teams überkleben an Spielen die binären WC-Beschriftungen und handhaben auch Garderoben so, dass nicht von zwei Geschlechterkategorien ausgegangen wird. Übrigens gibt es eine Wiener Derby-Cheerleader-Gruppe namens «Fearleaders»: Eine Gruppe Männer in kurzen engen Höschen, die mit choreografierter Bodenakrobatik traditionelle Geschlechterrollen auf den Kopf stellen.
Pronomenrunde am Probetraining «Für einige mag dieser queerfeministische Aspekt kein entscheidender Grund sein, Rollerderby zu spielen», lenkt Valérie ein. «Für mich aber ist diese Sportart auch ein queerer Space, bei dem ich weiss, dass akzeptiert wird, wie ich liebe. Es ist schön zu wissen, dass ich problemlos meine Partnerin erwähnen könnte. Dass im Probetraining eine Pronomenrunde gemacht wird. Und dass mindestens drei andere dieselbe Regenbogentasche haben wie ich.» Mit Derby-Freund*innen nahm Valérie am feministischen Streik in Zürich teil, auf Rollschuhen. Und sie liebt es, sich Räume zurückzuerobern, die traditionell von skatenden Typen besetzt sind. Valérie spürt, wie immer mehr Frauen und nicht-binäre Personen dazukommen: «Während des Lockdowns waren meine üblichen Derby-Läden plötzlich leergekauft», erinnert sie sich. «Es fingen viele Leute an, Rollschuh zu fahren. So cool, dieser Aufwind! Das merken wir auch daran, dass mehr Laute in die Probetrainings kommen. Der Nachwuchs ist da!» Nachwuchs wird im Rollerderby altersunabhängig verstanden.
Eine Alterslimite gibt es nicht Offen und tolerant sein für die Vielfalt von Spieler*innen: Für Dani ist das nicht zwingend politisch. «Das hat nichts mit Politik zu tun, sondern mit Anstand. Wir machen das, was nötig ist, damit Leute sich wohlfühlen. So kann auch erst ein Umdenken stattfinden.» Dani schätzt am Rollerderby, dass der Fokus darauf liegt, was Körper alles machen können, nicht auf dem Aussehen.
Es ist schön, wenn eine Uniform nicht uniform sein muss
«Früher traute ich mich nie, Sport zu machen. Ich habe mich nicht wohlgefühlt in Sportkleidern, speziell in enger Kleidung. Im Rollerderby dürfen die Spieler*innen auch was Weites tragen. Es ist schön, wenn eine Uniform nicht uniform sein muss.» Früher habe sich Dani nie umgezogen vor anderen Leuten, auch nicht vor vertrauten Personen. «Aber Rollerderby gab mir Selbstbewusstsein. Umkleiden und Duschen sind eine urteilsfreie Zone. Das gibt mir viel. Auch nach meiner Mastektomie (Anm. d. Red.: Entfernung des Brustdrüsengewebes) musste ich mich nicht verstecken, und das ist angenehm.»
Ziel: mehr Leute erreichen Rollerderby ist eine Community, die auch ausserhalb der Tracks existiert. Viele Teams trainieren ein bis zwei Mal die Woche, und die Arbeit rund um die Vereine ist selbstorganisiert und -finanziert. Viele Spieler*innen engagieren sich, indem sie beispielsweise die Team-Webseite betreuen, Hallen für Spiele reservieren, Medienarbeit koordinieren. Valérie macht unter anderem Letzteres. «Ich fände es schön, wenn mehr Leute Rollerderby kennen würden. Wenn der Sport breiter abgestützt wäre. Einerseits, was die Finanzierung angeht, aber auch in einem Stadion zu spielen, wäre schon mal geil. Wir müssen ja nicht so gross werden wie Fussball, aber Pétanque zum Beispiel kennen ja auch sehr viele, obwohl es nicht alle spielen.» Ausserdem würde sie mit Rollerderby gerne mehr Leute erreichen, die sich einen solch inklusiven Sport wünschen.
Bei so wenigen Teams können wir es uns nicht leisten, verfeindet zu sein
Dann muss Valérie los; ihr Bus nach München fährt bald. Sie wird das ganze Wochenende dortbleiben, nach dem Spiel gibt’s natürlich eine Afterparty, und zwar mit dem gegnerischen Team gemeinsam. «Bei so wenigen Teams können wir es uns nicht leisten, verfeindet zu sein», witzelt Valérie, während sie den Rucksack mit dem Glitzerhelm schultert. Es ist klar, dass das nicht der primäre Grund ist, weshalb Derby-Spieler*innen auch gerne zusammen feiern: Dieser Sport verbindet. Mit diesem Gedanken greift Purple Pain zu ihren Regenbogen-Rollschuhen und macht sich auf den Weg zum nächsten Spiel.
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