«Reclaim Stonewall» oder das Ende schwuler «Behäbigkeit»?
Fast zeitgleich fanden in New York und Istanbul Pride-Paraden statt, die extrem unterschiedlich abliefen. Während die einen ausgelassen feierten, ging die Polizei gegen die anderen mit Schlagstöcken und Tränengas vor
Wem Gay Pride «gehört», ob man ihn «zurückfordern» bzw. wie man Pride überhaupt angemessen feiern sollte im Jahr 2019, darüber gehen die Meinungen derzeit weit auseinander.
Den einen ist die aus den «Riots» von 1969 erstandene Stonewall-Bewegung inzwischen viel zu hedonistisch und kommerzialisiert, andere wollen einfach nur Party und pilgern zu den grossen Umzügen weltweit. Wieder andere trotzen massiver Polizeigewalt und kämpfen gegen Gummiknüppel, Tränengas und Wasserwerfer für LGBTIQ-Rechte, wie am gestrigen Sonntag in Istanbul.
Man kann die Lage schizophren bezeichnen, ebenso das Verhalten einiger LGBTIQs. So flogen letzte Woche viele namhafte Aktivisten aus dem deutschsprachigen Bereich zum «Wordpride/Stonewall 50» nach New York City, um ebenfalls am gestrigen Sonntag in «Kampfmontur» (wie sie auf Facebook schrieben) fahneschwingend durch die Strassen von Manhattan zu laufen – geschützt von Polizei, Medien und der Mainstream-Gesellschaft. Angefeuert von Popstars wie Lady Gaga, die der Masse (und ihren kaufkräftigen Fans) schon vorab zurief: «Ihr seid Superstars!»
Fast zeitgleich verlief die Pride-Parade in Istanbul, die zum fünften Mal in Folge von den Behörden verboten wurde, mit Verweis auf die «Volksgesundheit». Die türkische AKP-Abgeordnete Betül Kaya reagierte auf Twitter auf die Demo mit den Worten: «Unsere wichtigste Aufgabe ist es, die familiäre Gemeinschaft vor allen Krankheiten, die sie bedrohen, zu schützen.» Die Frau hat mehrere Doktortitel, unter anderem in Medizin und Psychologie, wie jemand anderes auf Twitter anmerkte.
Lady Gaga bei Stonewall-Gedenken: «Ihr seid Superstars!»
Das Organisationskomitee der türkischen LGBTIQ-Parade hatte für Sonntag um 17 Uhr zu einer Zusammenkunft vorm Französischen Kulturzentrum am Taksim-Platz aufgerufen. Der Gouverneur (von der nationalen AKP-Regierung direkt eingesetzt) hatte die geplante Demonstration verboten, die Organisatoren luden trotzdem alle «LGBTI+ sowie alle Gegner*innen der LGBTI+-Phobie» zur «Abgabe einer Presseerklärung» ein.
In einer über Twitter verbreiteten Nachricht wurde darauf aufmerksam gemacht, dass auch eine als Ersatzveranstaltung angemeldete Demonstration im Istanbuler Stadtteil Bakirköy vom Gouverneur verboten worden sei: «Damit zeigt sich, dass das vom Gouverneursamt seit Jahren vorgeschobene Aktivitätsverbot am Taksim nur ein Vorwand ist. Unsere Zusammenkunft vor dem Französischen Kulturzentrum wird mit der Verlesung einer Presseerklärung, dem Tanzen in allen Strassen am Taksim und dem Rufen von Parolen fortgesetzt werden.»
Bewundernswerter Widerstand Es versammelten sich in Istanbul tausende Menschen zu einem Meer aus Regenbogen- und Transflaggen. Nach Verlesung der Presseerklärung bzw. eines Pride-Manifests machten sich viele trotz Verbots zu einer Demonstration durch die Innenstadt und Einzelkundgebungen in den Seitenstrassen des Taksim-Viertels auf. Allerdings blockierte die Polizei den Umzug. Das führte im weiteren Verlauf zu den dramatischen Bildern, die am Sonntagabend in vielen Medien – auch in der Tagesschau – zu sehen waren. Sie führten ihrerseits zu geradezu reflexhaften Reaktionen, wie der von Ulle Schauws (Grüne), die am Montag auf Twitter «Solidarität mit allen LGBTIQ in Istanbul und anderen Städten der Türkei» forderte: «Trotz Verbots der Pride-Paraden sind sie auf den Strassen – gegen die Polizei, gegen Tränengaseinsatz für gleiche Rechte! Dieser Widerstand ist bewundernswert.»
Am Pride-Beispiel Türkei lässt sich recht gut beobachten, was es praktisch bedeutet, die geballte Staatsgewalt gegen sich zu haben und wirklich kämpfen zu müssen, um sich öffentlich für LGBTIQ-Rechte einzusetzen – gegen eine von Landesmehrheiten gewählte konservativ-religiöse Regierungspartei. Reicht es da, wenn Social Justice Warrior und all diejenigen, die gleiche Menschenrechte für alle und soziale Gerechtigkeit weltweit fordern, nur einen Tweet mit Hashtag «Solidarität» absetzen beim morgendlichen Kaffee? Oder einen entsprechenden Facebook-Link «liken»? Oder «wütend» darüber werden, wenn die Tagesschau einen Beitrag zu Istanbul in den sozialen Medien postet?
Kampfmontur und Schilder Reicht es, wenn die angereisten Aktivisten aus Deutschland beim Wordpride in New York Schilder hochhalten, auf denen zu lesen ist «Stonewall is not over», bevor sie sich von Madonna auf Pride Island feiern lassen für «Fifty years of revolution»? Zählt ein schnittiges schwarzes T-Shirt oder wahlweise ein Regenbogenoutfit als «Kampfmontur», wenn die wirklichen Kämpfe ganz woanders brutalst möglich ausgefochten werden, so brutal, wie die Stonewall-Aufstände einst auch waren?
Die Situation führt mir persönlich recht deutlich vor Augen, wie weit «wir» gekommen sind. In dem Dokumentarfilm «Mein wunderbares West-Berlin» sagt Wolfgang Theis, Aktivist der 70er-Jahre und Mitbegründer des Schwulen Museum, dass die wahre Befreiung der Schwulen und Lesben dem Kapitalismus zu verdanken sei, denn erst in dem Moment, wo die Wirtschaft gemerkt habe, dass es sich bei LGBTIQ um ein «lohnendes» Marktsegment mit entsprechender Kaufkraft handle, wurde die allgemeine Ausgrenzung beendet und die «Community» hofiert bzw. in den Mainstream integriert.
RBB zeigt «Mein wunderbares West-Berlin»
Das ist natürlich leicht provokativ formuliert von Theis, aber er könnte mit seiner Beobachtung Recht haben. Aus dieser Perspektive betrachtet ist es vielleicht eine Errungenschaft und etwas Positives, dass grosse kommerzielle Unternehmen wie Amazon, Google, Banken, Versicherungen etc. mit eigenen Wagen an den Pride-Paraden teilnehmen, in New York und anderswo.
Gegen liberal-kapitalistische LGBTIQs Genau dagegen protestieren wiederum die «Working Class Queeroes», ein «neues Kollektiv anarchistischer LGBTI-Leute» in Berlin. Aus der durchaus als gesellschaftlich «bequem» zu bezeichnenden LGBTIQ-Lage in Deutschland heraus organisierten sie ebenfalls am vergangenen Wochenende eine Demonstration unter dem Motto: «Reclaim Stonewall!» In einer Pressemitteilung verkündeten sie: «Wir möchten den fünfzigsten Jahrestag des ersten militanten, queeren Aufstands gegen polizeiliche Gewalt und cis-heteronormative Unterdrückung feiern, aber gleichzeitig wollen wir auch die Aneignung von Stonewall durch liberal-kapitalistische LGBT-Leute kritisieren. Wir glauben, dass Befreiung keine Anpassung an irgendwelche Institutionen und Praktiken der sozialen Dominanz ist.»
Wie viele Menschen an der Demo in Berlin-Schöneberg teilnahmen ist nicht bekannt, weil sie (erstaunlicherweise) keinerlei Medienecho fand.
Warum die «Working Class Queeroes» als proletarische Protestler nicht in der Türkei waren, um wirklich zu kämpfen gegen «polizeiliche Gewalt und cis-heteronormative Unterdrückung», bleibt ihr Geheimnis? (Vielleicht waren sie ja da und niemand hat es bemerkt?) Ob es nicht ein Vorteil sein kann, wenn die Polizei eines Landes mitdemonstriert und mitfeiert, wie etwa in Berlin und New York, sollte man vielleicht auch überdenken, bevor man nach «Anarchie» verlangt und dem totalen Umsturz von allem.
Disneysierung echter Marginalisierung Interessanterweise hat auch in New York kurz vorm Worldpride eine «Reclaim Stonewall»-Ausstellung eröffnet, kuratiert von zwei bekennenden Queerfeministinnen, die vermutlich weitgehend den Forderungen der «Working Class Queeroes» zustimmen würden. (Eine davon eine Vermögensberaterin.) Die Ausstellung wurde finanziert vom Goethe Institut Nordamerika, sie wurde schick aufbereitet von der Berliner Design-Agentur chezweitz («museale und urbane Szenografie»), und sie kommt als eine Art historische Übersichtsausstellung im Juli ins Schwule Museum, das inzwischen seinerseits vom Berliner Senat grosszügig finanziert wird – also mit Staatsgeldern. Sieht so queere Anarchie aus? Sehen so neue Narrative aus, die «bislang marginalisierte Gruppen» ins Zentrum eines neu zu formulierenden Narrativs rücken? Wählen die weißen «privilegierten» Kuratorinnen aus Berlin aus, wer als «marginalisiert» gelten darf und in die Ausstellung aufgenommen wird? Ist das nicht so etwas wie die ultimative «Disneysierung» von echter Marginalisierung und Ausgrenzung?
«Queer as German Folk» – Die deutsche Version von Stonewall
Darüber wird im Pride-Sommer 2019 sicherlich noch viel gestritten werden. Klare Schwarz-Weiss-Antworten gibt es nicht. Auch die Zeitschrift Jungle World kommt in ihrer aktuellen Stonewall-Ausgabe («Riots für den Regenbogen») in den verschiedenen Artikeln zu keiner einheitlichen Bewertung der Lage. Wenn da Tadzio Müller der Schwulenbewegung «Behäbigkeit» vorwirft, aus der «man» rauskommen sollte, um ein «würdiges Erbe der rebellierenden Queers von Stonewall» zu erreichen, dann kann man fragen, ob «Behäbigkeit» und damit verbundene «Zufriedenheit» nicht auch ein Ziel sein können?
Vor allem angesichts von Ereignissen wie denen in Istanbul. Sich nur in «Kampfmontur» zu werfen und dann möglichst weit weg von wirklichen Kampfgebieten zu «demonstrieren», kann keine Antwort sein. Oder man sollte sein «Wording» überdenken und ganz offen von «Feiern» sprechen. Auch das hat seine Berechtigung und seinen gesellschaftlichen Platz.
Uns gehört die Zukunft Zur «Reclaim Stonewall»-Debatte und zum Feier-Aspekt schreibt Polittunte Patsy l’Amour laLove (die diese Woche ebenfalls in New York war) in einem Zeitungsbeitrag für Jungle World: «Geschichtliche Ereignisse kann man nicht besitzen. Ihre Inanspruchnahme wird die Hoffnung auf durchaus gelingende Anerkennung ohnehin nicht erfüllen. Stonewall kann jedoch als Anlass verstanden werden, die bewegten Queers, Schwulen, Lesben und Transleute erster und schwerer Stunden zu feiern. Stonewall gehört niemandem – und uns gehört die Zukunft.»
Das möchte man den LGBTIQ-Kämpfern und -Kämpferinnen in der Türkei sowie anderswo auf der Welt, wo Menschen wegen ihrer sexuellen Orientierung unterdrückt und ausgegrenzt werden, auch laut zurufen. Man kann ihre Kämpfe auch mit grosser Bewunderung aus der Ferne verfolgen und sollte natürlich auch solidarisch mit ihnen sein. Aber was heißt «Solidarität» in diesem Fall? Vielleicht könnte man damit anfangen aufzuhören, die Lage hierzulande nur schlechtzureden und permanent von einem Werteausverkauf zu sprechen – besonders wenn man in Berlin-Schöneberg lebt und allen LGBTIQ-Komfort der Welt geniessen darf, mit Einschränkungen vielleicht, aber dennoch.
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