Queer Altern: Bloss nicht zurück in den Schrank
Strahlt der Regenbogen nicht auf alle Generationen?
In Alters- und Pflegeheimen sind LGBTIQ-Senior*innen unsichtbare Minderheiten, deren Bedürfnisse nicht wahrgenommen werden. Barbara Bosshard von Queer Altern sucht mit uns nach Gründen und stellt eine Lösung vor: die Siedlung Espenhof in Zürich.
Zürich gilt als offen und LGBTIQ-freundlich. Queers aus der ganzen Schweiz pilgern jedes Wochenende in die Clubs und Bars der Stadt, wo einmal im Jahr Zehntausende an der Pride Diversität und Toleranz feiern. Als «Rainbow City» ist Zürich ausserdem Teil des internationalen Netzwerks von Städten, die sich gegen Diskriminierung aufgrund von sexueller Orientierung oder Geschlechtsidentität engagieren.
Doch strahlt der Regenbogen über Zürich in Wahrheit nur für die jüngeren Generationen? Anlass zu dieser Frage geben Zahlen, welche die Fachstelle für Gleichstellung 2020 veröffentlichte.
Unsichtbare Minderheit Fast 2’000 Bewohner*innen leben in den 23 städtisch betriebenen Alterszentren. Wenn wir davon ausgehen, dass rund fünf bis zehn Prozent aller Menschen zur schwulen oder lesbischen Community gehören, müssten also etwa 100 bis 200 homosexuelle Senior*innen in den Zentren wohnen. Fakt ist aber, dass sich laut Fachstelle nur fünf Personen offen zu ihrer Homosexualität bekennen. Weitere 18 haben einer leitenden Person unter dem Siegel der Verschwiegenheit anvertraut, dass sie lesbisch beziehungsweise schwul sind. Eine schweizweite Umfrage von Pink Cross aus dem Jahr 2019 zeigt, dass dieses Problem im ganzen Land besteht: LGBTIQ-Menschen sind in den Pflege- und Altersheimen eine unsichtbare Minderheit.
Barbara Bosshard, Präsidentin des Vereins Queer Altern, muss daraus einen ernüchternden Schluss ziehen: LGBTIQ sehen sich gezwungen, während ihres letzten Lebensabschnittes zurück «in den Schrank» zu verschwinden. «Menschen, die so lange für ihre Rechte und ihre Freiheit gekämpft haben, enden wieder dort, wo sie angefangen haben: im Versteckten.» Das sei traurig.
Unverständnis und Diskriminierung Queer Altern setzt dem etwas entgegen und will Orte schaffen, wo ältere Menschen der Community andere Queers mit ähnlichen Biografien treffen. «Menschen, die dieselbe Sprache sprechen», sagt Barbara. Es soll ein Gefühl von Vertrautheit und Zusammengehörigkeit entstehen. Es soll spürbar werden, dass man nicht allein ist auf der Welt.
Damit hat der Verein vieles gemeinsam mit queeren Jugendtreffs, die eigentlich ganz ähnliche identitätsstiftende Funktionen erfüllen. Dass dies bei Weitem nicht die einzigen Gemeinsamkeiten sind, erlebe man an sogenannten Generationengesprächen mit der LGBTIQ-Organisation «Milchjugend», erzählt Barbara. Die Jungen würden durch die Begegnungen erfahren, was die Älteren früher durchmachen mussten; die Älteren wiederum lernen, dass für junge Queers heute längst nicht einfach alles rosig ist und Diskriminierung wie auch homophobe Gewalt noch immer existieren.
Zu den weiteren Anlässen von Queer Altern gehören ein monatlicher Stammtisch sowie zahlreiche Ausflüge und kulturelle Veranstaltungen. Diese werden vom Vorstand organisiert, manchmal aber auch von einzelnen Mitgliedern. Von ihnen gibt es derzeit rund 430, die meisten leben in Zürich. Inzwischen findet sich auch ein Ableger von Queer Altern in Basel und womöglich schon bald noch einer in Bern.
Der Verein pflegt eine enge Beziehung zu den LGBTIQ-Senior*innen und weiss, was sie beschäftigt, welche Bedürfnisse sie haben. Daher weiss Barbara auch, dass das Phänomen «back to the closet» (zurück in den Schrank) in den Alters- und Pflegeheimen nicht ohne Grund so verbreitet ist. Ein wichtiger Faktor sei die leider durchaus berechtigte Angst vor Ablehnung und Diskriminierung. «Wir wissen etwa von einem schwulen Mann, der gebeten wurde, seine Geburtstagsparty auswärts abzuhalten, weil man nicht so viele Homosexuelle im Heim wollte», berichtet Barbara. In einem anderen Fall habe durch einen Spitalaufenthalt ein Pfleger realisiert, dass der Patient schwul ist, und ihm gesagt, dass er dies «nicht akzeptiere».
«Queere Altersheimbewohner*innen können in den meisten Situationen nicht teilhaben, wenn zum Beispiel um sie herum alle Fotos ihrer Enkelkinder hervorholen. Sie wiederum können nicht erzählen, wie sie mit uns auf dem Tuk-Tuk an der Pride teilgenommen haben, weil sie dann wieder erklären müssten, was überhaupt eine Pride ist, und damit auf Unverständnis stossen könnten.» All dies führe zum Rückzug.
Das Projekt Espenhof Die Lösung wäre, die queere Wahlfamilie bei sich im Heim zu haben, um so endlich Teil der Mehrheit zu sein – und genau das war schon seit der Gründung im Jahr 2014 die Vision von Queer Altern: ein Lebensort für LGBTIQ-Senior*innen.
Anfangs wollte das der Verein auf eigene Faust verwirklichen, doch dies scheiterte an den zu hohen Kaufpreisen der gewünschten Objekte. Von einer Genossenschaft erfuhr Queer Altern ganz unverblümte Ablehnung: «Wie sollen wir unseren Mitgliedern erklären, dass da so viele von euch aufs Mal hinkommen?» Doch einzelne queere Senior*innen über eine ganze Siedlung zu verteilen, sei nie eine Option gewesen. Dass alle aus der Community in enger Nachbarschaft direkt Tür an Tür nebeneinander wohnen, sei gerade der springende Punkt an der Sache, erklärt Barbara.
Schliesslich hat der Verein das Gespräch mit der Stadt Zürich gesucht. Damit begann eine erfolgreiche Zusammenarbeit, bei der Stadtrat Andreas Hauri mit seiner «Altersstrategie 2035» eine wichtige Rolle spielt: Die «Konzeption und Erprobung von spezifischen, bedarfsgerechten Wohnangeboten» für die LGBTIQ-Bevölkerung ist eine der darin festgehaltenen Massnahmen. Mit der Siedlung Espenhof im Quartier Albisrieden entstehen nun – mitten in der Stadt und eingebettet in einen Park – 135 neue Wohnungen für ältere Menschen. 26 davon in derselben Liegenschaft sowie ein Grossteil der 24 Plätze in den drei Pflegewohngruppen sind für Angehörige der Community reserviert. Entwickelt und betreut wird das Projekt Espenhof von der Stiftung für Alterswohnungen der Stadt Zürich, den Gesundheitszentren für das Alter der Stadt Zürich und Queer Altern.
Alle drei Partner sitzen gleichberechtigt in den unterschiedlichen Arbeitsgruppen wie der Steuergruppe, Baugruppe, Vertragsgruppe oder der Gruppe für Öffentlichkeitsarbeit und Marketing. Letztere hat zur Aufgabe, das Projekt in die Bevölkerung zu tragen. Denn auch wenn die Beteiligten ähnliche Projekte in Berlin, Köln und Wien (siehe Box) vor Ort inspiziert haben, sind sie sich einig, dass der Espenhof lokal verankert werden muss.
Kein «queeres Ghetto» Ein Autor der Plattform Seniorweb wollte von Queer Altern wissen, ob im Espenhof ein «queeres Ghetto» entstehe. Mit der Siedlung erreiche man nicht die gewünschte Integration von LGBTIQ in die Gesellschaft, sondern vielmehr deren Segregation.
Wenn wir unter uns sind, in unserer queeren Wahlfamilie, dann tanken wir Energie
Dieses «Ghetto-Argument» lässt Barbara nicht gelten. Man werde Veranstaltungen für alle Siedlungs- und Quartierbewohnenden organisieren. Es gehe nicht darum, dass man sich abschotte, sondern dass man sich unterstütze. Das sei auch nichts Ungewöhnliches: Alle Menschen würden den Kontakt zu «Gleichgesinnten» suchen. «Wenn wir unter uns sind, in unserer queeren Wahlfamilie, dann tanken wir Energie, die wir nutzen, um unsere Vielfalt und unser Engagement in die Gesellschaft einzubringen.»
Verbunden über den Tod hinaus Barbara weiss aus Gesprächen, dass nicht alle Zürcher LGBTIQ-Senior*innen im Espenhof leben möchten. Für manche sind die Wurzeln an anderen Orten und zu anderen Menschen stärker als die Verbundenheit mit der queeren Community. Manche wiederum wollen jedoch selbst nach ihrem Tod mit ihrer Wahlfamilie vereint bleiben. Das wird nun bald möglich sein: Auf dem Zürcher Friedhof Sihlfeld wird im September das Themengrabfeld «Regenbogen» eingeweiht (MANNSCHAFT berichtete).
Es ist das neuste von Queer Altern angestossene Projekt, das insgesamt 12 LGBTIQ-Organisationen unterstützen. Eine Gruppe bestehend aus Vertreter*innen der Lesbenorganisation Schweiz, Haz – Queer Zürich, Pink Cross und der christkatholischen Gemeinde Zürich arbeitet seit gut einem Jahr an der Umsetzung des Grabfeldes für queere und nicht queere Menschen. Zum Projekt gehört eine Website, die queere Biografien beinhaltet, Zugang zu queerfreundlichen Dienstleistungen ermöglicht und über das Vorgehen bei einem Todesfall informiert. Ein «versöhnlicheres Ende» als ein Gemeinschaftsgrab, findet Barbara. Auch sie möchte hier einst begraben werden.
Ernüchternde Zeitreise? Wir reisen mit Barbara 70 Jahre in die Zukunft. Die heute 20-Jährigen leben nun in den Altersheimen. Bestimmt werden queere Menschen dieser Generation ganz selbstverständlich in solchen Institutionen sichtbar sein, oder? Barbara ist sich da nicht so sicher. «Wenn man sieht, was in Polen oder Ungarn geschieht und was religiöse Vertreter wie der Papst sagen . . .» Das habe grosse Auswirkungen. Die Suizidrate sei bei jungen LGBTIQ-Menschen weiterhin erhöht.
Immerhin eines wird sich mit der Zeit wandeln: Es gibt immer mehr Regenbogenfamilien. Und so hätten dereinst auch die queeren Senior*innen Bilder ihrer Enkel*innen zum Herumzeigen.
Ein Blick nach Deutschland und Österreich Die «Villa anders» des bereits 2004 gegründeten Vereins «Schwul-Lesbisches Wohnen» in Köln ist Deutschlands erstes queeres Mehrgenerationswohnprojekt, in dem LGBTIQ zusammen mit Heteros unter einem Dach leben.
Die Schwulenberatung Berlin realisiert gerade ein generationsübergreifendes und interkulturelles gemeinschaftliches Wohnprojekt: Der «Lebensort Vielfalt II» wird Platz für rund 70 barrierefreie Wohnungen bieten; darunter eine Pflege- und zwei therapeutische Wohngemeinschaften. Im «Lebensort Vielfalt» in Berlin-Charlottenburg wohnen bereits heute mehrere Generationen zusammen.
In München entsteht mit dem Projektnamen «Wohnen unterm Regenbogen» gerade ein Senioren- und Pflegeheim für Queers, das von der Stadt finanziell unterstützt wird.
In Wien gibt es den 2017 fertiggestellten «Que[e]rbau Seestadt». Geplant ist ausserdem das Bauprojekt «Que[e]rbeet im Wildgarten». Dabei handelt es sich um Wohnhäuser, in denen Queers aus allen Altersgruppen leben.
Eine Studie der Universität von Lancaster in Grossbritannien und der Universität von Alberta in Kanada hat 23‘000 Menschen innerhalb von sechs Jahren zweimal nach ihrer sexuellen Orientierung befragt. Dabei ergaben sich besonders für Frauen über 65 neue Erkenntnisse (MANNSCHAFT berichtete).
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