«Postcards from London»: Sex und die schönen Künste
Jim (Harris Dickinson) ist ein hübscher, etwas naiver Junge aus Essex, der beim Anblick großer Kunst in Ohnmacht fällt. So lernen wir ihn gleich zu Beginn des Films kennen: Ein Gemälde von Tizian haut ihn schlicht um.
In London möchte Jim sein Glück finden, dort will er Geheimnisse erkunden und Gelegenheiten auskosten. Doch schon in der ersten Nacht wird er ausgeraubt und muss auf der Straße übernachten. Bald trifft er auf die „Raconteurs“, eine Gruppe hochgebildeter Männer-Escorts, die sich als wandelnde Wikipedia-Artikel zu den schönen Künsten entpuppen. Sie haben sich auf das geschliffene Gespräch vor und nach dem Sex spezialisiert.
Jim schließt sich ihnen an und steigt schnell vom naiven Anfänger zur gefragten Begleitung und Künstler-Muse auf. Mit seinem Aussehen könnte er es sogar zum größten Stricher-Star bringen, den London je gesehen hat. Wenn er nur nicht unter dem Stendhal-Syndrom leiden würden, das ihn beim Anblick wahrer Kunst in Ohnmacht fallen lässt und sich Lebendbildern, in Tableau vivants, seines Lieblingsmalers wiederfindet, des etwas zickigen Caravaggio.
Geld oder Liebe? Doch Jims Hypersensibilität eröffnet ihm auch ganz neue Möglichkeiten. Er könnte reich werden damit, aber am Ende sieht er ein, dass Freundschaft ein weitaus höheres Gut ist.
„Postcards from London“ ist ein wundervoller Film, der das Zeug zum Kultfilm hat. Es ist dem Werk anzusehen, dass er mit kleinem Budget entstanden ist – und das macht ihn umso zauberhafter. Vieles ist stilisiert: Soho, die elterliche Wohnung in Essex, die Traumsequenzen, in denen Jim für Caravaggio Model steht. Aber das bringt umso mehr den Charme und die Zerbrechlichkeit des Hauptdarstellers zur Geltung.
Gevögelt wird übrigens im ganzen Film nicht, das vermisst man als Zuschauer auch nicht. Trotzdem ist er erst ab 12 Jahren freigegeben. Vermutlich weil einmal die Rede auf Jims großen Schwanz kommt …
Der Regisseur Steve McLean siedelt seine selbstironische Ode an die Kunst der käuflichen Liebe in einem hochstilisierten Soho der Gegenwart an, in dem Escorts als die einzig wahren Träger schwuler Kulturgeschichte gelten. Jims Coming-of-Age-Geschichte ist eng verwoben mit queeren Filmklassikern wie Pasolinis „Accatone“, Fassbinders „Querelle“ und Van Sants „My Own Private Idaho“. Wichtigste Bezugspersonen sind aber Caravaggio – der erste Maler, der es wagte, Bettler und Huren zu Heiligen zu machen – und Derek Jarman, der das Leben des Künstlers kühn verfilmte.
Der Film war schon auf diversen Festivals zu sehen und läuft in der Queerfilmnacht am Mittwoch in Berlin und Heidelberg, am Donnerstag in Jena. Weitere Termine gibts hier. Offizieller Filmstart in Deutschland ist leider erst im Dezember.
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