«Beide Formen des Andersseins sind menschlich»
Oliver Sechting leidet unter einer Zwangsstörung - damit geht er ebenso offen um wie mit seinem Schwulsein
Oliver Sechting leidet unter einer Zwangsstörung. Sieht er eine – für ihn – negative Zahl wie die 58, so muss er sie neutralisieren, um ein Unglück zu vermeiden. Ähnliche Zwangsgedanken bereiten ihm Fugen im Bürgersteig. Über das Leben mit der Krankheit hat er ein Buch geschrieben und den Film «Wie ich lernte, die Zahlen zu lieben» gedreht. Im Jahr 2017 erschien seine Autobiografie «Der Zahlendieb ‒ Mein Leben mit Zwangsstörungen». Auch ein Kinderbuch gibt es jetzt zum Thema.
Oliver, du hast dich zuerst mit deiner Homosexualität geoutet, später mit deiner Zwangsstörung: War das zweite Coming-out einfacher? Ich habe in beiden Fällen die Erfahrungen gemacht, dass meine Ängste und meine Sorgen, die ich vorher hatte, grösstenteils oder sogar überhaupt nicht eingetreten sind. Grundsätzlich kann man aber das Coming-out als Homosexueller und das als psychisch Kranker nicht gleichsetzen. Beides sind Formen des Andersseins und beides ist am Ende menschlich. Aber das eine ist eine sexuelle Orientierung ist, die selbstverständlich ist, und das andere ist eine psychische Erkrankung, ein Handycap.
«Das erste Coming-out kann eine Art ‹Trainingseffekt› haben»
Du hast aber insgesamt gute Erfahrungen mit deiner Offenheit gemacht? Es ist natürlich ein doppeltes Stigma, homosexuell und psychisch krank zu sein. Das macht in bestimmten Situationen das Leben nicht einfacher,vor allem bei der Jobsuche. Vor allem wenn man sich auch öffentlich beschäftigt wie ich damit. Jeder, der meinen Namen googelt, stösst auf diese Informationen. Das ist ein Bekenntnis auf Lebenszeit, das muss man sich gut überlegen – auch wenn ich natürlich immer für Offenheit bin, weil es hilft, Stigmata zu bekämpfen.
Antidepressiva schränken oft die Libido deutlich ein. Kennst du das auch? Ja, absolut. Das ist leider ein Tabuthema, dass die Behandlungen mit Medikamenten natürlich Nebenwirkungen mit sich bringen, etwa den Verlust der Libido oder Störungen der Sexualfunktion. Man kommt nicht mehr zum Orgasmus oder es führt dazu, dass Sexualität im Grunde abgeschafft ist. Da fehlt auf einmal etwas im Leben, und das zu kompensieren, ist gar nicht so einfach.
«Schattenseite des Regenbogens»: Mahnmal für die Opfer des §175
Du arbeitest als Diplom-Sozialpädagoge in der Schwulenberatung Berlin und hast auch Kontakt mit anderen Betroffenen, die an psychischen Erkrankungen leiden. Ja, die sind teilweise sozial sehr isoliert, weil sie in ihrem Umfeld nicht auf die Offenheit wie ich gestossen sind. Es ist immer individuell. Es gibt auch in der Therapie keine Patentrezepte. Jeder muss seinen eigenen Weg finden, Therapie und Psychopharmaka wirken sehr unterschiedlich.Auch Angehörige sollten sich informieren. Gerade bei Zwangsstörungen ist es wichtig, dass sich Partner oder Familienmitglieder nicht in die Rituale einbinden lassen, weil es die Zwänge sonst verstärkt. Auf der anderen Seite wünsche ich mir als Betroffener natürlich Empathie.
Kannst du anderen Menschen mit Zwangsstörungen etwas raten? Durch mein Buch und den Film kriege ich immer Anfragen von Menschen, die fragen, was sie tun können – auch weil sie sich die Therapie sparen wollen. Das sage ich aber immer ganz klar: Nein, bitte erstmal zum Arzt gehen. Ich habe einen ganz individuellen Lebensweg, ausserdem bin ich auch noch ein Suchender. Ich lebe mit Zwangsstörungen und Depressionen und habe auch noch keine Lösungen gefunden. Und wenn ich sie mal habe, steckt dahinter ein langer Weg. Ob man die Lösung auf jemand anderen übertragen kann, das glaube ich nicht.
Oliver Sechting hat zusammen mit Karen-Susan Fessel die Biografie «Der Zahlendieb – Mein Leben mit Zwangsstörungen» veröffentlicht. Im Juni erschien jetzt ausserdem das erste Kinderbuch über Zwangsstörungen: Zusammen mit Eva Hidalgo hat er das Buch «Frederic, der Zahlenprinz» geschaffen, das die schwierigen und häufig schambehafteten Themen Ängste und Zwänge auf erfrischend ungezwungene Weise behandelt.
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