Nehmt dem NDR endlich den ESC weg!
Der Kommentar zum miesen Abschneiden Deutschlands
Die Ukraine steht ganz oben, ganz unten mal wieder: Deutschland. Malik Harris kam mit «Rockstars» auf Platz 25 (von 25). Mit ARD One sahen etwa 7,3 Millionen das Finale. Und damit den erneuten Beweis, dass der verantwortliche Sender NDR es nicht kann, meint unser Autor*.
Die Ukraine hat also den Eurovision Song Contest 2022 gewonnen. Die grösste (und schönste) Musikshow der Welt fand im Zeichen des Krieges statt, da geht so ein ESC-Sieg vollkommen in Ordnung. Auch wenn er mich nicht so richtig happy macht. Denn ohne den Angriffskrieg Russlands hätte es die Band nie so weit gebracht – da muss ich dem langjährigen ESC-Experten Jan Feddersen widersprechen.
Es war trotzdem ein spannender Abend, denn obwohl die Buchmacher Italien und Schweden (neben der Ukraine) als Sieger*innen sahen, durften sich plötzlich Grossbritannien und (warum auch immer) Spanien zwischenzeitlich ihren Siegesträumen hingeben. Am Ende hat es für Sam Ryder und seinen «Space Man» nicht gereicht, weil es weit über 400 Punkte beim Televoting für die Ukraine gab. Nachvollziehbar, wie gesagt, ein tolles, wichtiges Zeichen des Solidarität.
Aber was machen wir nun bloss mit Deutschland? Mit 6 mageren Punkten reichte es am Ende nur für den letzten Platz. Das war so erwartet worden und ist auch zu Recht so gekommen. Nicht weil der Song oder Maliks Performance an sich schlecht oder der Sänger unsympathisch gewesen wäre.
Nach der Abstimmung zeigte ihn die Kamera ausgelassen und freudig, als hätte er die Tabelle verkehrtherum gelesen. Er liess aber nach der Show wissen: Der Sieg der Ukraine gehe für ihn in Ordnung, er habe sich das sogar gewünscht (MANNSCHAFT berichtete).
Sein Song «Rockstars» war leider vollkommen mutlos, so wie die anderen Songs, die beim Vorentscheid zur Wahl standen. Jendriks «I Don’t Feel Hate» im vergangenen Jahr übertrieb es wiederum mit dem Mut und überforderte die Zuschauer*innen mit seinem wilden Genremix. Der Song war leider nicht besonders gelungen und landete auf dem vorletzten Platz, vor Grossbritannien. Dort schaffte man binnen eines Jahres die Kehrtwende und hätte nun fast gewonnen.
Der NDR aber kann es nicht, und er will es offenbar auch nicht. «Die Verantwortlichen haben keine frischen Ideen und keinen langfristigen Plan wie Deutschland wieder musikalische Erfolge auf der Bühne feiern kann», heisst es in einer Petition, die seit letztem Jahr eine Veränderung fordert.
Der NDR versteht den Contest offenbar nicht. Fast alle Songs im Finale waren frischer und mutiger, moderner als «Rockstars». Das zeigt sich auch daran, dass in diesem Jahr wieder viele Songs in den Landessprachen gesungen wurden: von den Niederlanden, Italien, Litauen, der Ukraine, Portugal, Frankreich sowieso (diesmal in Bretonisch!)
Deutschland singt seit Jahren Englisch. Wir Deutschen sind ja leider immer schnell bereit, unsere eigene Sprache aufzugeben – auch das ein Fehler, finde ich. Immerhin war mit Nico Suave & Team Liebe «Hallo Welt» ein deutschsprachiger Song in der Auswahl. Den wollten die Zuschauer*innen aber nicht (ich auch nicht).
Natürlich macht es die Sprache nicht allein. Vor allem zählt die Musik. Toll, was da dieses Jahr wieder an Vielfalt geboten wurde: der funkelnde litauische Song «Sentimentai», das soulige «Miss You» aus Belgien, das schräge, aber extrem eingängige und hypnotisierende «In Corpore Sano» aus Serbien. Alles fett produziert, made im 21. Jahrhundert. Der deutsche Sänger hätte vielleicht in den 90ern Jahren Siegeschancen gehabt. Aber der Song kam, so wie er geschrieben und produziert worden war, viel zu spät.
Das kann man Malik nicht ankreiden, wohl aber dem NDR, der seit Jahren immer wieder zeigt, dass er den ESC nicht kann, nicht versteht und nicht bereit ist, dazuzulernen. Gelegenheiten hätte es genug gegeben.
Man muss es sich mal vorstellen – und ich erlaube mir hier ausnahmsweise mal eine Fussball-Anleihe: Da tritt die deutsche Nationalmannschaft in der Europameisterschaft gegen die B-Auswahl aus der Ukraine an – das Kalush Orchestra war ja im nationalen Vorentscheid nur zweitplatziert (MANNSCHAFT berichtete). Und trotzdem gewannen die Herren. Weil Krieg herrscht, schon klar. Aber schallender kann eine Klatsche gegen den NDR trotzdem nicht sein. Wieder und wieder landet Deutschland ganz hinten.
Im Fussball hätte man bei solch desaströsen Abschneiden längst den Bundestrainer vom Hof gejagt. Der ist allerdings freiwillig gegangen, was nichts mit dem ESC zu tun haben dürfte. Jahrelang war Thomas Schreiber der ESC-Verantwortliche beim NDR, der ehemalige ARD-Unterhaltungskoordinator ist jetzt Geschäftsführer der Degeto. Gefolgt ist Frank Beckmann. Wer auch immer in der Übergangsphase das diesjährige ESC-Desaster geplant und zu verantworten hat: Der NDR wurschtelt einfach immer so weiter.
Der Sender verwaltet den ESC nur, er gestaltet ihn nicht, er entwickelt ihn nicht weiter, wie die Song-Auswahl im Vorentscheid immer wieder aufs Neue zeigt.
Man muss ja nicht zum Äussersten greifen und die Zusammenarbeit mit Stefan Raab reaktivieren. Auch wenn er der deutschen ESC-Bilanz sehr gut getan hat, siehe Lena, Max Mutzke und Guildo Horn. Ein kurzer Rückblick auf die letzten Jahre: 2019 landete S!sters mit «Sister» auf Platz 25 von 26; 2017 kam Levina mit «Perfect Life» auf Platz 25 von 26, davor Jamie Lee mit «Ghost» auf Platz 26 von 26. Und so weiter und so weiter. Rühmliche Ausnahme, ein Versehen, muss man wohl sagen, war Michael Schulte, der 2018 mit «You Let Me Walk alone» einen guten 4. Platz erreichte (von 26).
Darum mein dringender Appell: Nehmt dem NDR den ESC weg. Es muss ja nicht für immer sein. Aber beim NDR findet sich derzeit offenbar niemand, der diesen Contest versteht.
Es ist doch gute Tradition in Europa, dass der Vorsitz im Rat der EU rotiert. Warum nicht in der ARD? Nächstes Jahr kümmert sich mal der WDR, dann der RBB. Oder gebt den ESC meinetwegen ans ZDF. Fest steht: Es braucht hier einen kompletten Neuanfang.
*Jeden Samstag veröffentlichen wir auf MANNSCHAFT.com einen Kommentar oder eine Glosse zu einem aktuellen LGBTIQ-Thema. Die Meinung der Autor*innen spiegelt nicht zwangsläufig die Meinung der Redaktion wider.
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