Marcel Mann: Die Einsamkeit der Achtsamkeit

Eine neue Folge der MANNSCHAFT-Kolumne Mannstruation

Foto: Instagram/Marcel Mann
Foto: Instagram/Marcel Mann

Der Comedian Marcel Mann erzählt in seiner Kolumne von Rebecca. Rebecca ist eine Freundin von ihm. Aber wer weiss, wie lange noch. Schuld ist ihre Achtsamkeit – mit sich selbst.

Viele meiner Freunde und vor allem Freundinnen haben seit Kurzem etwas Neues für sich entdeckt: Die Achtsamkeit. Damit ist im Grunde nur gemeint, dass man auf sich selbst achtet, in sich reinhorcht und auch mal sich selbst an erster Stelle sieht. Ich habe also auch mal in mich reingehört, ganz tief hab ich in mich reingehört, und da war eine kleine Stimme, eine Stimme, der ich in den vergangenen Wochen zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt hatte, und sie sagte mir, dass mich, also ganz persönlich, die Achtsamkeitsübungen meiner Freunde derbe ankotzen. Ich kann es ernsthaft, in aller Freundschaft, nicht mehr hören!

«Achtsamkeit. Ich habe die Achtsamkeit für mich entdeckt.» Ja, gratulation, Rebecca! Hast du vielleicht sonst noch was entdeckt? Eine neue Ameisenunterart, einen Zwergplaneten oder so? Oder wie man bitteschön seinen eigenen Ellenbogen ablecken kann? Ich frage für einen Freund. Denn das mit der Achtsamkeit hast du mir schon erzählt. Und nicht nur einmal, Rebecca, du erzählst mir in jedem einzelnen Telefonat von deiner Entdeckung, und da hab ich gehofft, vielleicht gibt’s ja nun endlich mal was Neues.

Nicht dass irgendetwas daran falsch wäre, in einer Welt voller Termine und Erwartungen und Burn-Outs öfter mal auf den eigenen Körper zu achten, sich Zeit für Entschleunigung zu nehmen, ein bisschen weniger Zucker zu essen oder einfach tatsächlich mal das zu tun, was dir guttut, aber wenn ich den In-sich-Reinhorchern so zuhöre, dann fällt es leicht, zu glauben, das Spannendste, was die tief in sich drin entdeckt haben, sei ihr eigener Dickdarm gewesen.

Wenn du nach einem Monat Achtsamkeit, in dem du versuchst, dich mehr auf das zu konzentrieren, was dich ausmacht oder dich bereichert, dass das nicht der Sport Yoga an sich oder irgendeine total coole empathische Eigenschaft oder ein ganz anderes Hobby, sondern offenbar die reine 24-Stunden-Beschäftigung mit dir selbst ist, dann bist du vielleicht ein verdammt langweiliger Mensch.

Und deine eigenen Bedürnisse immeran vorderster Stelle zu sehen, das kannst du schon Achtsamkeit nennen, ich glaube aber, da gab es schon ein Wort dafür, bevor der erste Guru aus dem indischen Ashram ausgebrochen ist, nämlich: Egoismus. Ja jetzt hab ich’s gesagt: Ich finde Menschen wie Rebecca egoistisch. Freundinnen wie Rebecca, die sagen, dass sie in der letzten Hypnosesitzung in ihre Kindheit gereist seien und da gemerkt hätte, dass es in ihnen total das Bedürfnis gebe, in den Freizeitpark im Spreewald zu gehen.

Und dann fährst du da hin, und fünft Minuten vor eurer Verabredung rufen dich diese Freundinnen an und sagen nicht etwa: «Hey ich habs verpeilt» sondern «Hey ich wollte jetzt einfach mal schnell mit dir sprechen, ich hab so gemerkt, ich brauch das gerade für mich, dass noch’n bisschen ruhiger mache heute und einfach zu Hause bleibe.» Und statt: «Tut mir leid», sagen sie: «Ich hoffe du verstehst das. War mir jetzt einfach wichtig, dass wir miteinander reden, damit da auch alle negativen Gefühle aus der Bahn sind, weil ich gemerkt habe, dass mir das nicht gut tut. Und da dachte ich: Das ist jetzt einfach besser, wenn ich dich anrufe, als schnell ne SMS zu schreiben.»

Und statt: «Nee Rebecca, nee, versteh ich nicht und das ist auch nicht cool, dass ich gerade in die hässlichste Gegend Deutschlands gefahren bin und dir nun einfällt, dass du ja Achtsamkeit entdeckt hast, du brunzdumme Yoginirette!» sagst du dann: «Okay… äh na klar, mach du mal ruhiger, wenn du das brauchst, dann logisch, nä? Und… äh danke dass du angerufen hast. Knutschi!»

Achtsamkeit ist ein Arschloch

Und dann sagen diese Menschen wie Rebecca: «Na klar! Für dich doch immer. Das war mir echt wichtig.» Und dann gehst du allein in den Vergnügungspark im Spreewald, weil Rebaccas innere Stimme dir über Umwege gesagt hat, dass du das jetzt brauchst. Achtsamkeit ist ein Arschloch, weil es die Yogakids total aus der Verantwortung nimmt. Mit inneren Stimmen lässt sich nur schlecht diskutieren.

Das reflektiert wirkende «Ich brauch das gerade für mich» ist ein Totschlagargument, und je mehr dieser Leute ich in meinem Leben habe, desto mehr merke ich einfach für mich persönlich, dass ich das Wort Totschlagargument ab und zu gerne wörtlich nehmen würde. Jetzt hab ich zur Gewalt aufgerufen und kann nie wieder für die Grünen kandidieren. Toll. Danke für nichts Rebecca!

Wenn dich ein Freund versetzt, weil er verplant ist, kannst du einfach sauer auf den sein, und wenn dir deine Angestellte sagt, dass sie den Job, den sie angenommen hat und für den die Deadline morgen früh ist, jetzt doch lieber nicht machen will, sondern zum Wandern nach Südtirol fährt, dann kannst du ihr erklären, dass sie den Urlaub gerne nehmen kann, sobald der Job erledigt ist, weil du sie sonst nämlich kündigst. (Ich hab keine Angestellten. Das ist ein rein hypothetisches Szenario eines zukünftigen Jungliberalen.)

Diskutier mal mit einer Gebärmutter!

Aber wenn Rebecca dich in der Pause vom Theater anruft und dir sagt, dass sie deine Kinder, jetzt wo sie sie gesehen habe, lieber doch nicht babysitten solle, weil sie in ihre Gebärmutter reingehorcht habe und die einfach gerade nicht durch fremde Kinder unter Druck gesetzt werden wolle, was machst du dann? Diskutier mal mit einer Gebärmutter! Noch dazu mit einer fremden. Die Gebärmutter auszuspielen ist richtig fies. Das ist ungefähr so als hätte Jesus höchstpersönlich deiner Freundin gesagt, dass sie dich im Stich lassen soll.

Die Achtsamkeitsjünger*innen sind aber selbstredend nicht monofaktoriell scheisse. Neben ihrem grenzenlosen Egoismus und der gleichzeitigen Unangreifbarkeit, indem sie alles, worauf sie keinen Bock haben, auf diverse innere Organe oder Stimmen schieben, gehört selbstverständlich auch eine gewaltige Portion Arroganz zum Programm. Achtsamkeit sollte bedeuten herauszufinden, was dir guttut. Und obwohl ich für uns alle hoffe, dass es etwas Spannenderes an und in uns gibt als unseren Dickdarm, gehört der natürlich dazu. Das ist okay.

Ich finde nicht, dass jemand essen sollte, was sie oder er nicht veträgt. Ich finde es wichtig, dass Menschen sich so ernähren können, dass es ihnen Kraft gibt und sie nicht den Rest des Tages auf der Toilette verbringen müssen, nur weil ihnen ihr innerer Darm gesagt hat, dass sie das jetzt brauchen. Aber Ernährungstipps sind gar nicht meine Kernkompetenz, und ja, verdammt, ich WEISS, was du jeden Tag frühstückst, seit du Achtsamkeit entdeckt hast Rebecca, denn du hast es mir erzählt, auch schon mehrmals, ja und nein, ich will nicht mit dir darüber sprechen, was das mit mir macht, wenn ich das höre. Ich akzeptiere deine Essgewohnheiten, solange sie nicht das rohe Fleisch eines Menschen beinhalten. Aber ich möchte WIRKLICH nicht noch mal hören, dass es bestimmt auch mir guttun würde, morgens ein, zwei Stündchen früher aufzustehen und nach einer ausgedehnten Qi-Gong-Runde gemütlich einen Chiapudding zu löffeln und ein bisschen heisses Wasser zu trinken.

Danke vielmals für den Tipp, Rebecca. Ich freu mich dass es dir hilft, aber weisst du, ich, ich ganz persönlich habe für mich gemerkt, dass es mir guttut wenn ich morgens schlafe. So sehr mich der trendige Egotrip um mich herum nervt, so sehr bezweifle ich, dass das irgendjemand so viel gibt, wie er behauptet. Du bist kein besserer Mensch, weil du all die Klamotten, die du aus Kinderarbeit in zahlreichen Verpackungsformate eingeschweisst über Amazon bestellt hast, jetzt, nachdem du dir über Amazon das Buch von Marie Kondo bestellt hast, wegschmeisst.

Und nein, dass du dich vorher bei jedem einzelnen Kleidungsstück bedankst, macht es auch nicht besser. Bitte erzähl mir nicht, dass mein Lifestyle, solange er sich nicht Achtsamkeit nennt, Ausdruck meiner inneren Leere sei, denn wenn ich mir so anschaue, was in deinem Inneren so drinzustecken scheint, bei all dem Kram, den du da drin gehört haben willst, bin ich eigentlich ganz froh, wenn es bei mir ein bisschen leerer ist. Wir tun alle Dinge um die innere Leere zu füllen, daran ist nichts verkehrt. Bei dir ist es Achtsamkeit, bei anderen ist es ein Helfer-Komplex oder CrossFit. Vielleicht ist es auch Sticken oder Makramee. Und ich glaube, wenn wir dabei nicht komplett alles und alle um uns herum vergessen, dann ist das nicht so schlimm was es ist.

Wenn es beim Fliegen so richtig turbulent zugeht, dann wird der Comedian Marcel Mann schwach …

Unterstütze LGBTIQ-Journalismus

Unsere Inhalte sind für dich gemacht, aber wir sind auf deinen Support angewiesen. Mit einem Abo erhältst du Zugang zu allen Artikeln – und hilfst uns dabei, weiterhin unabhängige Berichterstattung zu liefern. Werde jetzt Teil der MANNSCHAFT!

Das könnte dich auch interessieren