Mangel an HIV-Medikamenten: «Schlimmer als befürchtet»
Kritik am Bundesministerium für Gesundheit
Verbände und HIV-Expert*innen befürchten einen Anstieg der Neuinfektionen in Deutschland.
Es gibt in Deutschland offenbar nicht mehr genug Medikamente zur HIV-Prophylaxe, um alle Nutzer*innen zu versorgen. Laut einer neuen Umfrage der Arbeitsgemeinschaft ambulant tätiger HIV-Mediziner:innen (dagnä) melden knapp 90 Prozent der HIV-Schwerpunktpraxen, dass sie von den Lieferengpässen der Wirkstoffkombination Emtricitabin/Tenofovirdisoproxil betroffen seien – dem einzigen Mittel, das in Deutschland für die HIV-Präexpositionsprophylaxe (PrEP) zugelassen ist.
Die Mehrheit gab an, dass nur noch reduzierte Packungsgrössen herausgegeben werden können (rund 56 Prozent); mehr als ein Drittel meldete, dass PrEP-Nutzer die regelmäßige Einnahme der Mittel unterbrechen mussten (36 Prozent). Weil das Medikament auch in der Behandlung von Menschen mit HIV eingesetzt wird, mussten wegen des Mangels auch laufende HIV-Therapien umgestellt werden (28 Prozent).
«Wir sind an dem Punkt, vor dem Praxen und Apotheken seit Monaten warnen“, sagt dagnä-Vorstandsmitglied Stefan Mauss in einer Pressemitteilung am Dienstag. Das Bundesministerium für Gesundheit (BMG) sei seitens der Berufsverbände bereits im November über die drohenden Lieferprobleme informiert worden, eine Reaktion des Ministeriums sei nicht erfolgt. «Es wirkt so, als kümmere sich das BMG nicht um das Problem.“
Da sich in Deutschland aktuell knapp 40.000 Menschen mit der PrEP vor HIV schützen, ist laut Mauss angesichts des Mangels ein Anstieg der Neuinfektionen unvermeidlich – ein «Rückschlag für die jahrelange erfolgreiche Präventionsarbeit.“ Besonders bedrohlich könne die Situation für HIV-positive Menschen werden, die Emtricitabin/Tenofovirdisoproxil im Rahmen einer sogenannten Salvage-Therapie einnehmen, also wenn andere Therapiemöglichkeiten ausgeschöpft sind. Ihnen fehlt plötzlich ein lebenswichtiges Medikament. «Der Schaden ist gross“, so Mauss. Jetzt müsse die Politik handeln, damit er nicht noch grösser werde.
Im Rahmen eines digitalen runden Tisches mit Vertretern der dagnä, der Deutschen Aidshilfe (DAH), der Deutschen AIDS-Gesellschaft (DAIG) und der Arbeitsgemeinschaft HIV-kompetenter Apotheken (DAHKA) hat ein Sprecher des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) Ende vergangener Woche den Ernst der Lage bestätigt. So gibt es offizielle Lieferengpässe von Emtricitabin/Tenofovirdisoproxil laut BfArM bei drei Herstellern, die zusammen 71 Prozent des Marktes abdecken; Ratiopharm mit einem Marktanteil von 56 Prozent hat anhaltende Lieferschwierigkeiten bis mindestens März genannt – das ist nicht mehr durch andere kompensierbar.
Das BfArM habe den Verbänden gegenüber angekündigt, unverzüglich zu prüfen, ob Hersteller im Ausland wirkstoffgleiche Medikamente mit europäischer Zulassung für den Gebrauch in Deutschland verfügbar machen können. Zudem werde das BfArM auf das BMG zugehen, um zu klären, ob ein offizieller Versorgungsmangel ausgesprochen werden sollte, um weitere Massnahmen zur Beschaffung der Medikamente einzuleiten. «Wir freuen uns über den konstruktiven Austausch mit dem BfArM“, so Mauss. Jetzt dürfe nicht noch mehr Zeit verloren werden. Die Prüfung der Gestattung von Auslandsimporten sei ein wichtiger Schritt; zudem könne eine Erklärung des Versorgungsmangels durch das BMG langfristig dazu beitragen, das strukturelle Problem zu adressieren.
Nach Einschätzung von DAHKA-Vorstand Erik Tenberken ist die Lage noch dramatischer als die Zahlen des BfArM suggerieren. «Aktuell beliefert uns keiner der einst 14 Hersteller in gewohnten Umfang; zwei Unternehmen haben die Produktion ganz eingestellt“, sagt er. In einer DAHKA-Umfrage gaben laut dem Apotheker über 90 Prozent der knapp hundert DAHKA-Mitglieder an, kein Emtricitabin/Tenofovirdisoproxil mehr auf Lager zu haben. «Es ist schlimmer, als wir zu fürchten gewagt haben“, sagt Tenberken.
Dass der Mangel in Deutschland von Herstellern im europäischen Ausland kompensiert werden könne, halten Mauss und Tenberken für unwahrscheinlich. «Die Lage ist nirgendwo so dramatisch wie in Deutschland, aber in den Nachbarländern können meist auch nur die Heimatmärkte bedient werden“, sagt Tenberken. So haben auch Schweden, Belgien und Spanien gemeldet, dass einige Hersteller nicht liefern. Dass Apotheken im Fall von Lieferengpässen auch teurere, wirkstoffgleiche Mittel an Kassenpatient:innen abgeben können – etwa das Originalmedikament Truvada von Gilead – ist für Tenberken «hilfreich, aber eher ein Tropfen auf den heissen Stein“. Gilead habe zwar angekündigt, die Produktion zu erhöhen, doch viele Apotheken dürften Truvada nur zögerlich bestellen, weil sie auf den Kosten sitzen bleiben könnten, wenn wieder Generika verfügbar seien. „Hier ist der Gesetzgeber gefordert, dass den Apotheken kein Risiko entsteht.“
Dagnä, DAIG, DAHKA und DAH erarbeiten aktuell gemeinsam Strategien, um die Versorgung so gut wie möglich aufrechtzuerhalten: etwa neue Dreimonatspackungen zu stückeln oder Patient:innen auf die Möglichkeit einer anlassbezogenen PrEP hinzuweisen, die weniger Tabletten erfordert, allerdings nicht für alle Nutzer als geeignet gilt.
Alle Beteiligten betonen, dass die Verantwortung nun vor allem bei der Politik liege. «Die PrEP ist ein wesentlicher Bestandteil der HIV-Prävention – wenn dieser Schutz vor HIV weiter ausfällt, wird das fatale Auswirkungen haben“, sagt Sven Warminsky vom Vorstand der Deutschen Aidshilfe. Dass auch Therapien HIV-positiver Menschen nicht mehr gewährleistet sind, sei erst recht nicht hinnehmbar. «Die Politik darf Menschen, die dieses Medikament dringend brauchen, nicht im Stich lassen.“ Wie dagnä-Vorstand Stefan Mauss sagt, gehe es auch darum, dass Patient*innen, Ärzt*innen, Beratungsstellen und Sozialarbeiter*innen nicht das Vertrauen in das Gesundheitssystem verlieren. Es könne nicht sein, dass die Bundesregierung den Eindruck erwecke, über Monate einen Mangel an lebenswichtigen Medikamenten hinzunehmen.
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