Johann Joachim Winckelmann: Eine schwule Ikone wird 300
Johann Joachim Winckelmann, dessen 300. Geburtstag in diesem Jahr gefeiert wird, gilt als Begründer der modernen Archäologie und Kunstwissenschaft. Die Antike war für ihn Ausdruck einer höheren Zivilisation. Mit seiner Formel von der „edlen Einfalt und stillen Größe“ antiker Kunst wurde er zum Wegbereiter der klassizistischen Ästhetik in Europa. Seine mehrbändige Geschichte der Kunst des Altertums, 1764 erschienen, war ein internationaler Bestseller und gilt bis heute als Standardwerk der Kunstgeschichte.
Sein Tod im Jahr 1768 war ein gewaltsamer: Im italienischen Triest wurde er zunächst erfolglos erdrosselt, dann mit acht Messerstichen in den Oberkörper malträtiert. Er konnte noch den Tathergang schildern, bevor er starb. Gerüchteweise wurde er durch einen Stricher ermordet, andere Quellen sprechen vom Täter als einem „des Diebstahls überführten Koch“. Tatsächlich, erzählt Wolfgang Cortjaens, der die Ausstellung kuratiert hat, wurde Winckelmann in einem Hotel von einem Mann namens Francesco Arcangeli getötet. Die Männer sollen in den Tagen zuvor unzertrenntlich gewesen sein. Vielleicht war es ein Raubmord, vielleicht war die Tat sexuell motiviert? Die mysteriösen Umstände der Ermordung sind von der meist heteronormativen Winckelmann-Forschung stets heruntergespielt worden. Dabei war Winckelmanns Schwulsein damals bekannt. Er war, über 100 Jahre vor Oscar Wilde, eine schwule Ikone – und zwar unter den Augen der römischen Kurie. 13 Jahre lebte er dort, war päpstlicher Antiquar der römischen Altertümer und Bibliotheksdirektor.
Casanova hat Winckelmann angeblich mal in einer eindeutigen Situation erwischt. Kommentar Winckelmanns: Wenn ich mich schon mit der griechischen Antike beschäftigte, will ich mich auch mit den Praktiken der griechischen Liebe befassen. Aber das ist möglicherweise nur eine Anekdote und diente der Legendenbildung.
Die Ausstellung, die gestern Abend im Schwulen Museum* eröffnet wurde, trägt den Titel „Winckelmann – Das göttliche Geschlecht“. Im Mittelpunkt steht die Antikenrezeption des Gelehrten. Anhand von rund 100 Skulpturen, Gipsabgüssen, Gemälden und Zeichnungen, Stichen und Druckwerken des 18. und 19. Jahrhunderts wird der von Winckelmann neu angestoßene Diskurs um den Kanon des Schönen nachvollzogen. Dabei erscheint die Beschäftigung mit Kunst stets auch als eine Möglichkeit, wenn nicht als wesentliches Moment der Sublimierung erotischen Begehrens.
Winckelmanns Beschreibungen, über die man sich früher immer etwas mokierte, weil man sie schwülstig fand, zeigen laut Coertjans „wie sehr er selber von den männlichen Statuen gefangen war und die eigene Faszination auf das Objekt übertrug. Für ihn war das ein Mittel der Camouflage: Ich nehme die Sprache, und mit der Beschreibung oute ich mich für diejenigen, die es verstehen wollen. Diese Technik hat später auch Oscar Wilde ähnlich verwendet.“
[perfectpullquote align=“full“ cite=““ link=““ color=““ class=““ size=““]Keine Brust eines spartanischen Siegers, von Helden geboren, muss sich so prächtig und erhöht gezeigt haben.[/perfectpullquote] So schrieb Winckelmann über den Torso von Belvedere u.a.:
„Ich kann das wenige, was von der Schulter noch zu sehen ist, nicht betrachten, ohne mich zu erinnern, dass auf ihrer ausgebreiteten Stärke, wie auf zwei Gebirgen, die ganze Last der himmlischen Kreise geruht. Mit was für einer Großheit wächst die Brust an, und wie prächtig ist die anhebende Rundung ihres Gewölbes! Eine solche Brust muss diejenige gewesen sein, auf welcher der Riese Antäus und der dreileibige Geryon erdrückt worden. Keine Brust eines drei- und viermal gekrönten olympischen Überwinders, keine Brust eines spartanischen Siegers, von Helden geboren, muss sich so prächtig und erhöht gezeigt haben.“
Den Schlusspunkt der Ausstellung bildet die Zeit um 1850, als Winckelmanns Epocheneinteilung in eine universalhistorische Lesart von Stilabfolgen mündete und sich die Kunstgeschichte endgültig als wissenschaftliche Disziplin etablierte. In Seitensträngen werden auch kulturhistorische Aspekte beleuchtet: Da geht es etwa um Italien als Sehnsuchtsziel homosexueller Reisender und Kunstsammler im 18. Jahrhundert, aber auch um die historischen Bedingtheiten und Grenzen von der gesellschaftlichen Norm abweichenden Lebensentwürfen vor bzw. um 1800.
Durch seine Arbeit hat der in Stendal geborene Johann Joachim Winckelmann die Ästhetik von Männerbildern entscheidend mitbestimmt. Darum werden zu einer Veranstaltung im September Vertreter des Berliner Pornolabels Cazzo kommen und darüber sprechen, wie und wo man heute Körperideale trifft, die Winckelmann an antiken Statuen so sehr bewundert hat, etwa dem berühmten Herkules.
Der queere Aspekt nach Berlin ausgelagert
Mit der Klassik Stiftung Weimar, die zum Auftakt des Jubiläumsjahrs im Neuen Museum Weimar die Ausstellung „Winckelmann – Moderne Antike“ präsentiert, ist das Schwule Museum* eine Kooperation eingegangen. „Die Weimarer waren auch Leihnehmer und erstaunt, was wir alles haben“, erzählt Kurator Cortjaens stolz. So zeigt nun Weimar einen Winckelmann, ohne auf seine Homosexualität einzugehen, während der queere Aspekt gewissermaßen nach Berlin ausgelagert wurde.
Auch als Leihgeber hat Weimar das Berliner Projekt unterstützt. Allerdings zeigt das Schwule Museum* zu 80 % Ausstellungsstücke aus dem Eigenbestand, davon stammen nochmal rund 80% aus der Sammlung Sternweiler, einer der bedeutendsten homoerotischen Sammlungen, die vor einigen Jahren mit öffentlichen Mitteln fürs Schwule Museum* angekauft worden war. Weitere hochkarätige Leihgaben steuern unter anderem das Deutsche Historische Museum und die Alte Nationalgalerie der Staatlichen Museen zu Berlin bei – die Marsstatue etwa, die man zuletzt vor einigen Jahren im Louvre gesehen hat. Sie diente als Modell für den römischen Kriegsgott, der am Brandenburger Tor in einem der beiden Torhäuser zu sehen, dort ist er in eine Nische verbaut. Im Schwulen Museum* kann man ihn von allen Seiten betrachten und auch seinen kräftigen Rücken bestaunen.
Winckelmann – Das göttliche Geschlecht
16. Juni 2017 – 9. Oktober 2017
Schwules Museum* Lützowstraße 73, Berlin
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