Queer-Feminismus für die Ohren: Girlis neues Album «Matriarchy»
Fünf Jahre nach dem Debütalbum der Londoner Künstlerin Girli erschien Mitte Mai ihr zweites Album «Matriarchy». Darauf zeigt sich die Poprebellin von ihrer bisher sensibelsten Seite. Im Interview spricht sie über ihr Verständnis von Matriarchat, ihre bevorstehende Tour und übers kreative Dasein.
Interview: Nora Kehli
Girli, wie sieht deiner Meinung nach das ideale Matriarchat aus? Für mich ist ein Matriarchat ein Ort, an dem Frauen, Mitglieder der LGBTIQ-Community und alle, die sich im patriarchalen System nicht wohlfühlen, sich selbst sein können. Ein Ort, an dem alle, die in der heutigen Gesellschaft keine Freiheit und Macht erfahren, diese Dinge erleben können. Mein Ziel ist es, dass sich meine Musik, meine Videos und meine Shows für die Menschen, die sie hören, so anfühlen.
Du beschreibst dein kommendes Album «Matriarchy» als dein bisher reflektiertestes und verletzlichstes Werk, inwiefern? Während die ersten beiden veröffentlichten Songs «Nothing Hurts Like a Girl» und «Matriarchy» von anderen Menschen und der Welt im Allgemeinen handeln, sind die meisten Lieder des Albums introspektiv und erzählen vom Prozess der Selbstfindung.
Die Songs sind weniger peppig und tanzbar, sondern langsamer, trauriger, tiefgründiger. Aber das kann auch nur meine Sichtweise sein, vielleicht empfinden andere die Songs als mitreissend.
Das erste Lied des Albums «Be With Me» zelebriert die Selbstliebe, während der letzte Song «Happier Her» melancholisch daherkommt und von einem glücklicheren Ich handelt. Warum hast du dich dafür entschieden, das Album so enden zu lassen? «Happier Her» ist ein Lied über die Heilung und die guten Dinge, die kommen werden, aber auch über den Schmerz, der dafür durchlitten werden musste. Es ist ein hoffnungsvoller Song, der zugleich den Schmerz anerkennt. Das Ende des Albums drückt also nicht vollkommene Glückseligkeit aus, sondern betont den fortwährenden Prozess der Heilung.
Welcher Song auf dem Album liegt dir besonders am Herzen und warum? Der Song «Overthinking» ist wahrscheinlich mein persönlicher Favorit. Als der Song entstand, fühlte ich mich vom Leben überrollt und hatte kaum noch Lust, Musik zu schreiben. Irgendwie fand ich dann doch die Motivation, ins Studio zu gehen.
Der Text sprudelte nur so aus mir heraus. Zuerst dachte ich, der Song wäre wahrscheinlich Zeitverschwendung für alle Beteiligten, aber als ich später das Demo hörte, liebte ich ihn. Ich fühlte keinen Druck, dass das Lied perfekt sein musste, ich schrieb einfach, was mir in den Sinn kam, und am Ende kam etwas Schönes dabei heraus.
Wo hast du das Album aufgenommen und wie hat deine Umgebung das Album beeinflusst? Ich habe das Album an drei verschiedenen Orten aufgenommen: London, Stockholm und Los Angeles. London, meine Heimatstadt, dient mir als stetige Inspirationsquelle, da ich viele Erinnerungen und Erfahrungen mit dieser Stadt verbinde. Stockholm ist ein sehr introspektiver Ort für mich. Dort verbringe ich viel Zeit allein, was mir den nötigen Raum zum Reflektieren gibt.
L.A. ist das absolute Gegenteil: Ich gehe aus, treffe Leute und bin ständig unterwegs, was natürlich auch sehr inspirierend ist. Ich geniesse es, an all diesen verschiedenen Orten zu schreiben, da jede Stadt andere kreative Impulse gibt. Ich könnte wahrscheinlich kein ganzes Album nur an einem dieser Orte machen.
Wie bereitest du dich auf die bevorstehende «Matriarchy Tour» vor? Was erwartet das Publikum? Neben den Proben für die neuen Songs freue ich mich am meisten darauf, meine Tour-Outfits auszusuchen. Es macht viel Spass, Kleider von neuen Modeschöpfer*innen zu besorgen. Ausserdem plane ich Aktivitäten für meine Fans. Auf meiner letzten Tour habe ich etwa eine Schnitzeljagd organisiert, bei der die Fans Aufkleber mit QR-Codes finden mussten, um Koordinaten zu erhalten, die sie zu kostenlosem Merchandise führten.
Ich habe mir auch überlegt eine Tiktok-Serie mit dem Titel «Matcharchy Tour» zu erstellen, in der ich an den verschiedenen Stationen nach dem besten Matcha-Latte der Stadt suche. Die Tour besteht also nicht nur aus den Auftritten selbst, sondern auch aus vielen weiteren spannenden Aktivitäten.
Inwiefern ist Girli eine Stagepersona? Sind Girli und Milly dieselbe Person? Girli ist eine übertriebene Version meiner Selbst, die ich online und in meinen Shows präsentiere. Als Milly geniesse ich es, Zeit mit mir selbst, meiner Familie und meinen Liebsten zu verbringen, abseits der öffentlichen Aufmerksamkeit.
@girlimusic ep 5: New York City 🍵 the matcha wasn’t matriarching here 😕 #matcha #nyc #matriarchytour ♬ Be With Me – GIRLI
Das sind auch Momente, die ich bewusst nicht mit den sozialen Medien teile. Wenn ich Songs schreibe, tue ich das sowohl als Girli als auch als Milly. Ich habe zwar kein Alter Ego wie David Bowie geschaffen, aber es gibt definitiv eine gesunde Trennung zwischen meiner öffentlichen und privaten Identität.
Du hast eine grosse Onlinepräsenz. Inwiefern gehört diese digitale Präsenz heutzutage zum kreativen Dasein? Als Songwriter und Musikerin verbringe ich wahrscheinlich leider mehr Zeit damit, Inhalte zu erstellen und Werbung zu machen, als neue Musik zu kreieren. Der Druck ist gross, die eigene Musik selbst zu vermarkten. Es gibt allerdings auch positive Aspekte, zum Beispiel können alle ihre Musik selbst promoten, ohne auf ein Label angewiesen zu sein. Ausserdem kann ich mich über die sozialen Netzwerke mit Fans auf der ganzen Welt austauschen. Das Schönste ist dann, diese Menschen bei Konzerten persönlich zu treffen.
Du hast eine Videoreihe geschaffen, in der du weibliche und nicht-binäre Persönlichkeiten vorstellst. Kannst du eine oder zwei Personen nennen, die dich besonders inspiriert haben? Die Arbeit an der Reihe hat mir sehr Spass gemacht und ich habe viel gelernt. Ich liebe Geschichte, aber ich bedauere, dass der herkömmliche Unterricht viele Erfahrungen und Biografien von Frauen und queeren Menschen ausradiert hat.
Zum Beispiel die von Chevalier d’Éon, einer genderfluiden Person aus dem 18. Jahrhundert – es ist nicht bekannt, wie sich diese Person heute identifizieren würde, weil es die entsprechende Sprache damals noch nicht gab –, die in Spionageaktivitäten verwickelt war. Die erste Hälfte ihres Lebens lebte sie als Mann, die zweite als Frau. Sie wurde sowohl als Mann als auch als Frau respektiert und hat Erstaunliches geleistet.
Chevalier d’Éon inspirierte mich auch zum Musikvideo für den Song «Matriarchy». Ich war fasziniert von sapphischen Beziehungen und Liebesgeschichten vor Hunderten von Jahren, über die kaum etwas bekannt ist. Aber ich bin mir sicher, dass es schon immer queere Gemeinschaften gegeben hat.
Ich will Frauen und LGBTIQ-Personen bei der Arbeit an den Videos einbeziehen
Kannst du über den Entstehungsprozess der Musikvideos von «Nothing Hurts Like A Girl» und «Matriarchy» erzählen? Bei den beiden Musikvideos führte Claryn Chong die Regie. Gerade bei diesem Album war es mir wichtig, für die Videos und Visuals mit einer Frau zusammenzuarbeiten, um so den männlichen Blick zu vermeiden.
Ich wollte viele Frauen und LGBTIQ-Personen am Set und bei der Arbeit an den Videos einbeziehen, um auch ihre Geschichten zu repräsentieren. Das Set fühlte sich wie ein Safe Space an, in dem ich mich unterstützt und gut aufgehoben fühlte. Es war grossartig.
Auch deine Tour wird von einer weiblichen und nicht-binären Crew begleitet. Ja, ich möchte während meiner Tour von Menschen umgeben sein, mit denen ich mich wohlfühle und mit denen ich mich identifizieren kann. Da die Tourneewelt ein Männerclub sein kann, werden viele Frauen und queere Menschen nicht engagiert, obwohl sie besser oder gleich gut qualifiziert sind. Das möchte ich ändern.
In Anlehnung an deinen Vlog «I am obsessed with . . . » auf Youtube lautet meine letzte Frage: Wovon bist du gerade besessen? Im Moment bin ich vom Frauenfussball besessen. Ich habe mich erst letztes Jahr wegen der Weltmeisterschaft damit auseinandergesetzt. Das englische Team hat so gut gespielt. Mein Vater ist Australier, also habe ich auch das australische Team verfolgt. Jetzt spielen nicht die internationalen Teams, sondern die verschiedenen Vereinsmannschaften. Ich habe noch nie in meinem Leben ein Fussballspiel gesehen, aber in den letzten sechs Monaten waren es ungefähr fünf.
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