Trans-Drama «Girl» – bedrückend und beunruhigend
Ein Mädchen durchlebt ein Martyrium
In den Deutschen und Schweizer Kinos startet der von Kritiker*innen hochgelobte Film «Girl» von Regisseur Lukas Dhont. Michel Benedetti hat ihn schon für uns gesehen.
Text: Michel Benedetti
Bei diesem Film habe ich ein Dilemma. Der Erstling «Girl» des belgischen Regisseurs Lukas Dhont hat ja schon so viele Preise eingeheimst. 18 insgesamt. In Cannes gab’s die Goldene Kamera. Am diesjährigen Zurich Film Festival (ZFF) hat der Streifen den Preis für den besten internationalen Spielfilm abgeholt. Ich lese und höre nur wortreiche Hymnen in der Mainstream-Presse. Doch mich hat der Film bedrückt, beunruhigt und auch abgestossen.
Bei der letzten Ausgabe des ZFF brachte der elsässisch-stämmige Christian Sonderegger mit «Coby» einen erfrischenden Transgender-Dokumentarfilm auf die Leinwand. Da war ich hin und weg. Es war die reichlich dokumentierte Reise von Suzanna zu ihrer neuen Identität Coby. Ganz nahe an der Realität hat dieser Film vor allem liebenswerte Menschen portraitiert, die in ihrer kleinen Community mit jedem Grad der Veränderung ihre Gefühle neu kalibrieren mussten. Eigentlich ein Feelgood-Movie.
Dasselbe lässt sich von «Girl» überhaupt nicht sagen. Dieser Film hat den Groove eines modernes Martyriums mit Blut, Schweiss und einer Selbstkasteiung. Doch alles mal der Reihe nach. Die 16jährige Lara hat einiges vor im Leben. Sie ist soeben in eine Tanzschule zur Probe eingetreten. Knochenhartes Training, blutige Zehen und alles was wir schon aus «Fame» kennen. Lara hat die konzentrierte, züchtige Jungfräulichkeit einer jungen Ballerina, doch nur bis sie in ihre Garderobe kommt. Dort befestigt sie ständig ihren Penis mit Klebestreifen. Mit einer obsessiven Ungeduld möchte sie ihre Transformation vorantreiben. Diese ist zwar mit einer Hormontherapie schon angestossen, die Operation ist schon in Planung, doch alles geht nicht schnell genug.
Es liegt im Charakter von Teenagern, dass sie sich stur und wortlos in eine Trauer verbeissen, wenn das Leben anders geht, als sie es sich wünschen. Dieses Schweigen, dieses Nichtsagenkönnen oder Nichtsagenwollen ist zwar sehr authentisch, macht den Film aber auch streckenweise schwerfällig und zäh. Einmal sagt ihr der Psychologe, er sähe ein Mädchen vor sich. Lara sieht das ganz anders. Da sind diese Makel: die fehlenden Brüste, die nach den Hormonpillen einfach nicht wachsen wollen. Und dann dieses festgezurrte, zugeklebte, grässlich-lästige Ding. Lara isoliert sich, alles entgleitet ihr. In purer Verzweiflung greift sie zu einer Schere, ruft aber vorsorglich noch eine Ambulanz.
Die französische Zeitung Le Monde fast das Geschehnis so zusammen: Während 82 Frauen auf dem roten Teppich von Cannes für Gleichberechtigung einstehen, hat sich ein junges Transgender-Mädchen, gefangen im Körper eines Jungen, auf der Leinwand des Saals Debussy den Penis abgeschnitten. Es gab eine Ovation. Und ins Rampenlicht trat Victor Polster, ein Tänzer und Schauspieler, der durch seine hervorragende Verkörperung der Lara etwas über die etwas zu dick aufgetragene Tragik hinwegtröstet. Schon diese ambivalente, androgyne Stimme klingt so, als ob Cate Blanchett in einem männlichen Teenager reinkarniert ist. Victor Polster ist ein Name, den man sich merken sollte. Aber «Girl» auszulassen ist kein Verlust.
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