Wer hat Angst vorm alten weissen Mann?
Empfehlung unserer Kommentars*: lieber drüber lachen!
Mit dem Phänomen «Alter, weisser Mann» beschäftigt sich jetzt auch ein Kinofilm. Hat diese Spezies das verdient? Und: Warum die Kritik an alten weissen Männern oft vorhersahbar und langweilig ist.
Wenn sich eine deutsche Komödie mit einem gesellschaftlichen Phänomen befasst, kann man in der Regel davon ausgehen, dass es seinen Zenit überschritten hat. Ist das das Ende des «alten, weissen Mannes»? Eher nicht. Denn er stirbt nicht aus.
Nun hat es der «alte, weisse Mann» also noch zum Kinohelden geschafft, wenn auch nur zum Antihelden. Im gleichnamigen Film von Simon Verhoeven, der nächste Woche ins Kino kommt, tut er «Alter weisser Mann»-Sachen: überheblich und ignorant auf längst überholten Ansichten beharren und Altherrenwitze erzählen. Er lehnt ab, was woke ist oder scheint: Avocado Toast ebenso wie Hafermilch und überhaupt «diese ganze Diversity-Scheisse». Die Hauptrolle spielt Jan Josef Liefers.
Möchte ich das sehen? Nein. Mich langweilt schon die Inhaltsangabe. Ha-ha-Hafermilch. Dafür sind mir meine Schenkel zu schade, um darauf zu klopfen. Ausserdem vermisse ich bei deutschen Komödien allzuoft eine nicht unerhebliche Zutat: wirklich lustige Momente.
Ist der «alte, weisse Mann» immer noch ein Thema? Allerdings. Beispiel Thomas Gottschalk: «Wenn ich meine ‹Zuschauer› begrüsse, dann meine ich alle. Alte und Junge. Homosexuelle genauso wie Heteros, Arme und Reiche», erklärte der Entertainer neulich aus Anlass seines neuen Buches. «Die spüren das auch und ich bekomme es immer wieder bestätigt.»
«Alte weisse Männer sind also nicht zwingend alt. Und es sind nicht bloss Männer.»
Gottschalk will also nicht gendern; zu sehr Zeitgeist, findet er. Das sehen übrigens auch viele Junge so, die alten weissen Männer von morgen: Wie die aktuelle Shell-Jugendstudie zeigt, halten 88 Prozent der nicht-queeren Männer das Gendern für verzichtbar. Dagegen findet es jeder zweite queere Mann wichtig.
Alte weisse Männer sind also nicht zwingend alt. Und es sind nicht bloss Männer. Schlagersängerin Nicole hat vor über 40 Jahren (zu einer Zeit, als sich Gottschalk noch für «Wetten dass ...» warmlief) mit «Ein bisschen Frieden» den ersten ESC für Deutschland gewonnen. Der, das hat sie schon oft zu Protokoll gegeben, ihr heute so gar nicht mehr gefallen mag: «Es gewinnen Titel, wo ich weder ein Liedgut noch grossartigen Gesang feststelle», erklärte sie jetzt. Ich lese aus ihrer Wortmeldung eine eigenwillige Auffassung von deutscher Grammatik und vermisse komplett das Verständnis für künstlerische Weiterentwicklung.
Mäkeln am Eurovision Song Contest ist nach «Ein bisschen Frieden» ihr zweiter grösster Hit. Eine müde Abwandlung von «Früher war alles besser».
Ja, auf den ESC schimpfen ist populär. Das sieht man auch an der jüngsten Wortmeldung von Daniel Frischknecht, Präsident der Eidgenössischen Demokratischen Union (MANNSCHAFT berichtete). Der Schweizer sieht durch den ESC gar die «göttliche Ordnung» in Gefahr. Der Contest, den Nemo dieses Jahr gewann, sei ein «Versuch einer Gehirnwäsche, bei der das Schweizer Fernsehen zuvorderst mitmache». Eine Nummer kleiner konnte er nicht. Klar, denn Frischknecht will den ESC 2025 in Basel komplett verhindern.
Diese Mutation des alten weissen Mannes macht mir richtig Angst: der religiöse Eiferer mit politischem Einfluss. Solche Herren haben das Zeug, die Welt zu zerstören. Nicole und Gottschalk verderben einem vielleicht kurz mal die gute Laune.
Man muss aber auch sagen: Wortmeldungen wie die von vergleichsweise harmlosen Vertreter*innen dieser Zunft wie Gottschalk und Nicole sind ebenso wenig überraschend wie die Reaktion derer, die sich nicht als alte weisse Männer verstanden wissen wollen. Ist mir zu woke, rufen die einen. Die prompte Antwort der anderen: Du alter weisser Mann! Immer gut, wenn man für die Gegenseite eine passende Schublade bereithält. Dann muss man sich nicht inhaltlich mit ihren Positionen befassen. (Ja, das war ironisch gemeint.)
Mein Lieblingskommentar zur Äusserung des zertifizierten alten, weissen Mannes Gottschalk auf unserem Facebook-Profil lautete: Warum muss man dem eine Plattform geben? Jemandem lieber keine Plattform geben, ist ja nur ein anderer Ausdruck dafür, wenn man andere aus der Öffentlichkeit tilgen will, weil sie eine unliebsame Meinung haben. Nicht sehr demokratisch. Abgesehen davon – und das sage ich bei aller nicht-vorhandenen Bescheidenheit: Gottschalk hat (immer noch) eine Verbreitung, die unsere Reichweite nun wirklich nicht braucht. Und überhaupt: Sollen wir nur Sachen melden, die uns gefallen? Da gäbe es viele weisse Flecken auf MANNSCHAFT.com.
Insofern soll der alte weisse Mann ruhig weiter sein Unwesen treiben. Er schreibt ja nur Bücher, keine Gesetze (das hat in Bayern schon der Söder Markus getan und ein «Genderverbot» in allen bayerischen staatlichen Behörden, und damit auch in Schulen und Hochschule erlassen – MANNSCHAFT berichtete). Leute wie Gottschalk reden mal mehr, mal weniger dummes Zeug und jene, die sich für etwas Besseres und Aufgeklärteres halten, springen darauf an. Ich werde mich über beide Seiten auch weiterhin amüsieren. Nur lieber nicht im Kino.
*Die Meinung der Autor*innen von Kolumnen, Kommentaren oder Gastbeiträgen spiegelt nicht zwangsläufig die Meinung der Redaktion wider.
Die MANNSCHAFT-Kommentare der letzten Wochen findest du hier.
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