Erst Pride in Amsterdam feiern, dann «uitwaaien»
In den Niederlanden mischen auch Nicht-Queers ordentlich mit
Bei der Pride in Amsterdam die Liebe feiern und sich danach auf den Watteninseln vom Wind durchpusten lassen: für Karl Krause und Daan Colijn eine unschlagbare Kombination. Nachahmen empfohlen!
Der Wind frischt auf, das Haar zerzaust, Salz liegt auf der Haut, die Arme weit ausgestreckt — und der Alltagsstress scheint sich aufzulösen. Genau diese Portion frische Luft ist es, die die Niederländer als «Uitwaaien» bezeichnen: das Allheilmittel gegen zu viel Arbeit, zu viel Zeit am Schreibtisch, zu wenig Zeit im Freien. Auch wir gönnen uns regelmässig eine Nase voll frischen Wind, sei es im Amsterdamer Wald, am Schwulenstrand in Zandvoort oder auf einer der fünf bewohnten niederländischen Westfriesischen Inseln. Vlieland zum Beispiel.
Die kleine Insel mit dem Dorf Oost-Vlieland ist das ganze Jahr über ein beliebter Urlaubsort für die Niederländer*innen, auch für die aus Amsterdam. Es war 2013, als ich zum ersten Mal meinen Fuss auf Amsterdamer Boden setzte — kurz nachdem Daan und ich uns in Berlin kennen gelernt hatten. Ein halbes Jahr später tauschte ich die weitflächige Stadt gegen die kleine, kompakte und gleichzeitig so internationale Stadt Amsterdam. Dabei entdeckte ich diese für mich neue Seite der Niederländer: In Amsterdam wissen sie wirklich, wie man das Leben geniesst: Man gönnt sich freitags ab 15 Uhr schon das erste Bier im Büro, trifft sich gern im Park und der Jahreskalender ist gefüllt mit verschiedensten Festivals.
Eine Pride-Parade der besonderen Art Das Pride-Wochenende findet in Amsterdam immer Anfang August statt und zieht hunderttausende Menschen aus der ganzen Welt an. Die Niederlande gilt als eines der fortschrittlichsten Länder in Sachen LGBTIQ-Rechte und Akzeptanz queerer Lebensweisen – dazu zählt auch die Einführung der Ehe für alle bereits 2001 als erstes Land der Welt (MANNSCHAFT+).
Die Amsterdam Pride ist hier eine Institution. Und auch wenn die Grossveranstaltung anderen Pride-Events und CSDs in Europa ähnelt, ist die Pride-Parade in der niederländischen Hauptstadt besonders: Zum einen findet diese auf dem Kanal Prinsengracht statt. 80 bunt geschmückte Boote fahren mit tanzenden Queers und ihren Allys über den Kanal, während tausende Menschen ausgelassen in den Gassen der Innenstadt tanzen und die Liebe feiern, die erreichte Gleichberechtigung und die gesellschaftliche Akzeptanz aller Lebensweisen. Zum anderen scheint an diesem Tag keiner etwas von politischen Botschaften und Plakaten wissen zu wollen. Auch die «nicht-queere» Bevölkerung mischt ordentlich mit, in Volksfest-Manier. Doch ist das eine echte Pride?
Von den Fiets auf die Gracht «Daan, beeil‘ dich! Ich will in meinem Pride-Outfit mit Einhorn-Rucksack durch die Stadt ziehen und den Booten winken. Hast du unsere Regenbogenfahne?» So oder so ähnlich klingt es, wenn Daan und ich am Pride-Tag aufgeregt durch unsere Wohnung wuseln und probieren, an alles zu denken und hübsch auszusehen. «Fertig. Und vergiss nicht: Wir müssen Schuhe anziehen, in denen wir gut laufen können.»
Wir sind mit unseren besten Freunden, dem Paar Paul und Clement verabredet, die praktischerweise gleich um die Ecke wohnen. Voller Enthusiasmus und von Kopf bis Fuss auf Pride eingestellt, stehen wir zehn Minuten später auf den Fiets (so heissen die Drahtesel in den Niederlanden) an der übervollen Prinsengracht, dem längsten Kanal der Stadt, und warteten auf die farbenfrohe Parade. Verschiedenste Communitys, Unternehmen und Parteien liefern sich jedes Jahr aufs Neue einen Wettstreit um das schönste Boot mit der wichtigsten Botschaft – und natürlich dem besten Programm.
Was an der Regenbogenparade auf dem Wasser an politischem Gedanken zu fehlen scheint, macht die Amsterdamer LGBTIQ-Community auf traditionelle Weise wett. Getreu dem Motto «Erst die Arbeit, dann das Vergnügen» hat es vor einigen Jahren ein neues wichtiges Ereignis in den Veranstaltungskalender der Stadt geschafft: der Pride Walk. Eine Woche vor dem bunten Event auf dem Kanal marschiert die Community in CSD-Manier durch weniger liberale Stadtteile — mit Postern, Regenbogenflaggen und Flaggen der Länder, in denen Homosexualität noch verboten ist.
Eine Stadt bekennt Farbe Zudem finden über die ganze Woche verteilt zahlreiche Pride-Veranstaltungen statt, von Handtaschenweitwurf bei den Drag Olympics am Homomonument, Filmabenden unter freiem Himmel, Konzerten bis hin zu jeder Menge Partys – auch in unserer Stammkneipe, dem PRIK. Die ganze Strasse verwandelt sich in ein einziges, riesiges Stadtfest mit Bühnenprogramm, Kunst und Kultur.
«Wisst ihr eigentlich, dass ich nach meinem Coming-out mit 17 auf so einem Paradeboot mitgefahren bin?», erzählt uns Daan voller Stolz. «Es war das wohl kräftezehrendste Erlebnis meines Lebens. Sechs bis acht Stunden auf dem Boot in der Sonne tanzen, lachen und die Menge entlang der Route motivieren, Spass zu haben. Als Gratis-Bonbons auf unser Boot geschmissen wurden, gab es für mich kein Halten mehr.»
Wir stehen Arm in Arm auf einer kleinen Brücke über dem Kanal und können uns gerade noch so alle Vier nach vorne drängen. Denn wer den besten Platz ergattern will, muss früh aufstehen. Mit einem Lächeln auf den Lippen ergänzt Daan: «Und doch, das Erlebnis, auf der Parade mitzufahren, will ich heute nicht mehr missen. Die Atmosphäre ist so besonders, so energiegeladen, so frei.» Wir reissen die Arme hoch und wedeln unsere Regenbogenfahne durch die Luft, als es auf dem ersten Boot knallt und eine riesige Ladung biologisch abbaubare Konfetti in die Luft schiesst. So erlebe ich meine erste Pride in Amsterdam, mit Daan und unseren besten Freunden, um die Liebe zu feiern.
Diese frische Luft ist es, die die Niederländer als «Uitwaaien» bezeichnen.
«Uitwaaien» ist angesagt Ein solcher Tag, nein, eine ganze Woche voller Menschen, Programm und Feiern hinterlässt Spuren. In solchen Momenten ziehen wir gern hinaus in die Natur zum «Uitwaaien». Wir machen den Terminkalender frei und fahren, mit zwei kleinen Koffern Richtung Wattenmeer: von Amsterdam bis nach Harlingen in etwa zwei Zugstunden, weitere anderthalb Stunden Überfahrt vom Festland auf die Insel Vlieland. Ich muss mich ordentlich auf der Reling der Fähre festhalten. Der Wind hat merklich aufgefrischt und bläst mir die salzige Luft der Nordsee in mein Gesicht, durch meine Haare und gefühlt bis auf meine Knochen. Das ist mir egal, schliesslich bin ich ja genau dafür hier. Und diese Aussicht über die See und das flache, weite, grüne Land fasziniert mich. Ja, ich habe mich nicht nur in einen Niederländer verliebt, sondern auch in dieses wundersame Land unter dem Meeresspiegel.
Angekommen am Hafen von Vlieland fahren wir per Bus zu unserem Vier-Sterne-Strandhotel direkt in die Dünen. Bis auf wenige Autos, für die die Einheimischen eine besondere Erlaubnis benötigen, und einige Busse ist die Insel den Fussgänger*innen und Radfahrenden vorbehalten. Eingecheckt im Hotel zieht es uns gleich nach draussen. Mit unserer Stranddecke im Arm laufen wir barfuss dem Strand entlang. Hier begegnet uns einzig die Weite und das Kreischen der Möwen, die im Wind segeln. Daan packt meine Hand und zieht mich fest an sich: «Die Luft schmeckt nach Salz, nach Urlaub und Erholung im Wind, meinst du nicht auch?» Recht hat er.
Mit jedem Schritt, den wir in den feinen Sand setzen, macht sich das tiefe Gefühl von Entspannung breit. Uitwaaien. Ja, die Niederländer wissen, wie es geht: erst gut feiern und sich danach wieder ordentlich vom Wind durchschütteln lassen.
Infos
Pride Amsterdam 2022 www.pride.amsterdam 30. Juli bis 7. August
Festivals Watteninseln Into the Great Wide Open (Insel Vlieland) 1.–4. September 2022
SunBeats Beach Festival (Insel Texel) 9. Juli 2022
Anreise nach Vlieland: Fähre von Harlingen nach Vlieland rederij-doeksen.nl
Hotel: WestCord Strandhotel Seeduyn
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