Tribunal der Vorverurteilungen: Wenn die «Guten» zu Hass und Hetze aufrufen
Neue SRF-Doku behandelt die Geschichte des Shitstorms gegen LGBTIQ-Schriftsteller*in und Literatur-Aktivist*in Donat Blum
Am 6. März zeigt SRF1 in der Reihe «SRF DOK» den Beitrag «Hass und Hetze im Netz – ‹Ich mach dich fertig!›». Darin geht es u.a. um die Kontroverse rund ums Buch «Oh Boy: Männlichkeit*en heute» und um die Geschichte von Co-Herausgeber*in Donat Blum.
Blum hat aus gegebenem Anlass ein Statement verschickt, in dem er*sie Stellung bezieht zur Frage «Wo liegt die Grenze der Meinungsfreiheit?». Darin heisst es: «Diesen Donnerstag wird Eveline Falk in einem Dokfilm unter anderem meine Geschichte mit ‹Oh Boy› nacherzählen (…). Eine Geschichte von Schmerz und Fassungslosigkeit ab dem ausufernden Opportunismus, der längst nicht mehr nur in den Sozialen Medien vorherrscht. Und eine Geschichte von psychischer Gewalt, von Mobbing und einer erbarmungslosen Debattenkultur, die nur die eigenen Interessen im Blick hat.»
Und weiter: «Meine Erlebnisse stehen im Film in einer Reihe mit den Erfahrungen von Jolanda Spiess-Hegglin, Rita Brem-Ingold und Andreas Glarner. Drei andere Menschen, die der zerstörerischen Hetze, die viel zu oft und nahezu ungefiltert aus den Sozialen Medien in die klassischen Medien übergeht, ausgesetzt sind und waren – und sie im Fall von Glarner aktiv mitbewirtschaften.»
Traumatische Spuren Als Blum sich den Film vor zwei Wochen angeschaut habe, sei er*sie tief bewegt gewesen, heisst es. «Mir war nicht bewusst, wie sehr mir der Schmerz nach all den indirekten bis offen feindseligen Angriffen im Zuge des Shitstorms, mit dem ‹Oh Boy› systematisch überzogen worden war, wortwörtlich ins Gesicht geschrieben stand.»
Mittlerweile habe sich Blum gesundheitlich weitgehend von den damaligen Rundum-Schlägen erholt, die seine*ihre schriftstellerische Karriere beenden sollten. Dass Blum bei der Vorführung mehrfach mit den Tränen zu kämpfen hatte, habe ihm*ihr gezeigt, wie tief der Schock der über Monate anhaltenden Verleumdungskampagne noch immer sitze und welche traumatischen Spuren Hass und Hetze hinterlassen können.
Totalitäre Machtfantasien Dank der «feinfühligen und umsichtigen Machart des Filmes» überwog am Ende aber ein anderes Gefühl: «Endlich bin ich nicht mehr allein mit meinem Schmerz. Es war geradezu heilsam, zu sehen, dass Menschen über jegliche Weltanschauungs- und Identitätsgrenzen hinweg, fassungslos auf das mediale Mobbing blicken», schreibt Blum. «Ich wurde in der Einsicht bestärkt, dass es neben der Meinungs- und Redefreiheit mindestens so sehr die gegenseitige Unversehrtheit zu schützen gilt.»
Blum kommt zu dem Schluss, dass «wir» uns als Mitmenschen – «queer, nicht-queer, rechts, links, mitte, progressiv oder konservativ» – nicht weiter auseinanderdividieren lassen dürfen. «Erst recht nicht jetzt, da totalitäre Machtfantasien weltweit Aufwind haben und rüpel*innenhaftes Verhalten salonfähig geworden ist» (MANNSCHAFT berichtete über das Thema Meinungsfreiheit).
«Wir müssen wieder lernen, für die Freiheit von uns allen einzustehen – ‹selbst› für die Freiheit weisser cis-heterosexueller Männer»
Donat Blum, Schriftsteller*in
Wir müssten stattdessen wieder lernen, andere Standpunkte auszuhalten und besser mit Ambiguität umzugehen, erklärt Blum weiter. «Wir müssen wieder lernen, für die Freiheit von uns allen einzustehen – ‹selbst› für die Freiheit weisser cis-heterosexueller Männer – und nicht nur für unsere eigene Freiheit oder diejenige von Unseresgleichen.» Das gelte besonders dann, wenn man sich moralisch auf der richtigen Seite wähnen würde.
Komplexe Wahrheit(en) Blums fasst bezüglich dieses Freiheitsappells zusammen: «Das Terra-Rossa-Festival, das Literaturhaus Rostock, der Kanon Verlag und tausende mehr oder weniger aktive Zaungäste haben das vor eineinhalb Jahren leider vergessen, als sie trotz Warnungen dem Mobbing gegen uns ‹Oh Boy›-Macher*innen Tür und Tor geöffnet haben. Sie dachten, sie würden ein Zeichen gegen Gewalt setzen und haben stattdessen uferloser Gewalt Legitimation verliehen.»
Auch das im Film gezeigte Berliner Literaturfestival habe sich auf der «Seite der Guten» geglaubt, so Blum, «lud aber, statt zur Aufklärung beizutragen, zum einseitigen Tribunal der Vorverurteilung ein, in dem weder kritisch hinterfragt noch in irgendeiner Form die Gegenseite angehört wurde, die dann wenigstens hätte darauf hinweisen können, dass die Welt und die Wahrheit(en) komplexer sind, als schwarz und weiss.» (MANNSCHAFT berichtete über das Phänomen Cancel Culture.)
Das gelte erst recht, wenn es um patriarchale Gewalt gehe, der Blum als queerer Mensch – «der den heteronormativen Diskurs aktiv umzugestalten versucht» – fast täglich ausgesetzt sei. Oder wenn es um sexualisierte Gewalt gehe, die auch Blum, wie die meisten queeren Menschen, die bei Geburt als Männer registriert wurden, wiederholt erfahren hätten, heisst es im Schreiben.
Zusammenleben trotz Unterschieden Eveline Falk tappe mit ihrem Film in keine dieser Entweder-Oder-Fallen, meint Blum. Im Gegenteil, es gelinge ihr auf beeindruckende Art und Weise, sich von «Grobschlächtigkeit, Rechthaberei, Einseitigkeit, Ablenkung und Aggressivität in Politik, Aktivismus, Netz und Medien» nicht beirren zu lassen, und konsequent auf das zu fokussieren, was unser Zusammenleben trotz allen Unterschieden eigentlich immer ausmachen sollte: «Sensibilität, Empathie, Zusammenhalt und Vielfalt – kurz: Menschlichkeit.»
Allen, die mehr zu den Hintergründen des Shitstorms rund um «Oh Boy» und Blums Mitherausgeber des Bands Valentin Moritz wissen möchte, empfiehlt Blum den Artikel von Nadine Brügger in der NZZ sowie den Beitrag «Hinter den Schlagzeilen» von Fairmedia. Beide seien neben anderen Materialien zum Thema auf Blums Website zu finden, wo der NZZ-Artikel sowie Blums originaler Oh-Boy-Text (inkl. dem Vorwort des Buches) kostenfrei als PDF heruntergeladen werden können.
Der neue Sammelband «Glitter and be Gay: Reloaded» untersucht die Geschichte der «authentischen Operette und ihrer schwulen Verehrer» von 1850 bis heute (MANNSCHAFT berichtete).
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