Der «King of Pop» im Musical – Broadwaystart für «MJ»
Wie geht das Kreativteam mit dem Missbrauchsvorwürfen um?
Zum «King of Pop» ist eigentlich alles gesagt, und zuletzt kratzten erneut aufgerollte Missbrauchsvorwürfe am Image von Michael Jackson. Zur Uraufführung von «MJ» fragt sich deshalb eine ganze Branche: Braucht es dieses Musical wirklich? Christian Fahrenbach berichtet.
Am Broadway lieben sie das Spektakel – aber dass ein Handschuh beim ersten Auftauchen auf der Bühne Applaus bekommt, ist selbst für New Yorker Verhältnisse ungewöhnlich. Natürlich liegt das am besonderen Besitzer des mit Strasssteinen besetzten weissen Handwärmers. Es ist die Bühnenversion des «King of Pop» persönlich, Michael Jackson.
Nach rund sechs Jahren Vorbereitung und fast zwei Monaten öffentlichen Proben erlebte nun «MJ» seine Premiere. Das Stück ist eines der derzeit beeindruckendsten Musical-Spektakel im berühmtesten Theaterviertel der Welt – und doch fragt sich eine ganze Branche, ob es diese Show wirklich geben muss.
Braucht es tatsächlich noch einen weiteren Kommentar über die vermutlich am meisten ausgeleuchtete Figur der Musikgeschichte – und welche Haltung nimmt das Musical zu den Vorwürfen sexuellen Missbrauchs gegen den 2009 im Alter von 50 Jahren verstorbenen Jackson ein?
Frischer als frühere Jukebox-Musicals Zumindest den zweiten Teil dieser Frage hat das Kreativteam mit einem Kniff gelöst: «MJ» spielt wenige Tage vor Beginn der «Dangerous»-Welttournee im Jahr 1992 und damit, bevor es 1993 die ersten Anschuldigungen gegen Jackson gab. Im Zentrum steht ein Dokumentar-Filmteam, das die Proben für die Tour begleitet und versucht, Leben und Motivation Jacksons zu ergründen.
In Rückblicken erinnert sich der Sänger dabei an seine Anfänge mit den Jackson Five oder die mit Quincy Jones entstandenen Alben-Megahits «Thriller» und «Bad». Diese flexible Struktur ist geschickt gewählt und wirkt frischer als bei anderen Jukebox-Musicals, die pflichtschuldig chronologisch von der Geburt bis zum Tod erzählen. Szenen im intimen Probenraum wechseln sich mit aufwendigen Setdesigns grosser Auftritte ab.
Im Zentrum stehen immer wieder auch Reflexionen dazu, woher Jackson seine Inspiration nahm und wie ihm sein Perfektionismus zu schaffen machte. (MANNSCHAFT berichtete über die Uraufführung des queeren Michael-Jackson-Musicals «For the Love of a Glove» mit dem Hit-Song «Don’t Masturbate», es behandelte die Missbrauchsvorwürfe.)
Dass «MJ» nicht zum Musical von der Stange wird, liegt spürbar am Kreativteam. Dramatikerin Lynn Nottage ist eine zweifach mit dem Pulitzerpreis dekorierte Theaterautorin. Christopher Wheeldon ist ein in New York und am Londoner West End gefragter Choreograph und Regisseur. Beide wählen ungewöhnliche Zugänge und sind an Tanz und Charakterentwicklung mindestens genauso interessiert wie am Abspulen von Jacksons Hits.
Ihre Arbeit, die sie 2016 aufgenommen haben, stand aber lange unter keinem guten Stern. Öffentlich angekündigt im Frühjahr 2018, erschien sieben Monate später die Dokumentation «Leaving Neverland», in der noch einmal die Vorwürfe des Missbrauchs minderjähriger Jungen gegen Jackson aufgearbeitet wurden. Man entschied sich, dessen kreativen Prozess ins Zentrum der Show zu rücken. (MANNSCHAFT berichtete über das schwule Pornomusical von Hans Berlin alias Florian Klein, das in Los Angeles Premiere feierte.)
Hindernisse als Glücksfall Als schliesslich doch eine vorläufige Fassung des Musicals fertig war, kam 2019 der nächste Dämpfer: Ein Engagement in Chicago zum Testen des Konzepts vor dem grossen Broadway-Start wurde gestrichen, als Grund wurden Streiks von Theaterbediensteten genannt. Als neuer Starttermin wurde damals stattdessen der Sommer 2020 direkt in New York angekündigt. Kurz vor diesem Termin wiederum begann die Corona-Pandemie und alle Broadway-Theater mussten schliessen. Mit der Wiederaufnahme der Proben musste das Stück schliesslich auf den geplanten Hauptdarsteller verzichten, weil dieser sich zu anderen Projekten verpflichtet hatte.
Zumindest dieses letzte Hindernis erweist sich nun als Glücksfall, denn Broadway-Debütant Myles Frost hat in der Titelrolle eine umwerfende Bühnenpräsenz. Jeder Tanzschritt sitzt, die weich-tastende Sprechstimme kommt dem Original verdammt nahe, und doch lässt er Jackson nie als reine Imitation zur Karikatur verkommen. Auch die Choreographie des restlichen Ensembles sorgt immer wieder für Szenenapplaus, genauso wie die wandelbare Bühne, die sowohl zum Probenraum als auch für das grosse «Thriller»-Spektakel auf Basis des weltbekannten Grusel-Musikclips taugt – vermutlich sind das die atemberaubendsten fünf Minuten, die aktuell in den rund 40 Broadway-Theatern zu sehen sind.
Übereinkunft mit den Nachlassverwaltern Für Zuschauer, die sich eine ernsthafte Auseinandersetzung mit Jacksons Leben und seinen dunkleren Seiten wünschen, ist das laut New York Times bis zu 22,5 Millionen Dollar teure «MJ» nicht geeignet. Aber dies von einer Würdigung mit 37 Greatest Hits zu erwarten, die auch noch von den Erben abgenickt wurde, ist vielleicht zu viel des Guten. «Ermöglicht durch spezielle Übereinkunft mit den Nachlassverwaltern von Michael Jackson», heisst es knapp im Programmheft.
Doch an einer Verklärung Jacksons liegt dem Team auf und hinter der Bühne genauso wenig wie an einer Verurteilung. Stattdessen kümmert sich «MJ» um die Frage, warum der Star immer noch weiter arbeitete, obwohl ihm Perfektionismus, Presse und Pillen schon sichtbar zusetzten. Eine Antwort gibt der Bühnen-Jackson während «Human Nature» selbst: «Wenn sie fragen, warum, dann sag ihnen, es liegt in der Natur des Menschen.» (MANNSCHAFT berichtete über das neueste LGBTIQ-Musical von Peter Lund und Thomas Zaufke.)
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