Alter Ego: Bücher versus Vernunft – 7 zu 0
Die MANNSCHAFT+-Kolumne
Ein milder Herbstnachmittag. Er hat in der Innenstadt ein paar Dinge erledigt und für heute nichts weiter zu tun. In aufgeräumter Stimmung schlendert er noch etwas herum.
Ich: Weisst du, worauf ich jetzt Lust hätte? Alter Ego: Lass mich raten: Dir ein gescheites Werkzeugset zu kaufen und daheim die Kommode zu reparieren? Endlich den Keller aufzuräumen? Die Bilder aufzuhängen?
Ich: Ach, erinnere mich nicht daran. Nein, am liebsten würde ich jetzt in einer Buchhandlung rumstöbern. Alter Ego: Ach was? Darauf wäre ich nie gekommen. Du warst ja auch wirklich lange nicht mehr in einem Buchgeschäft. Ich: Den sarkastischen Ton kannst du dir sparen. Gestern war ich jedenfalls in keinem. Alter Ego: Ja, tatsächlich? Da wird’s aber höchste Zeit.
Ich ignoriere mein Alter Ego und steuere den stadtgrössten Buchladen an. Im Erdgeschoss schmökere ich durch die Herbstneuheiten und bleibe bei einer Novelle hängen.
Ich: Das klingt ja interessant. Könnte ich eigentlich direkt im Anschluss an mein aktuelles Buch lesen. Alter Ego: Darf ich dich daran erinnern, dass du noch geschätzte 40 ungelesene Bücher zuhause hast? Ich: Bah, so eine Novelle kann man doch gut dazwischenschieben.
Mit dem Büchlein in der Hand gehe ich zu den Schweizer Schriftstellenden rüber.
Ich: Ah, den Neuen von Sunil Mann hab ich immer noch nichtgelesen. Die perfekte Lektüre für den Herbsturlaub! Alter Ego: Ich will ja kein Spielverderber sein, aber daheim . . . Ich: Ich weiss, ich weiss, aber über kurz oder lang kauf’ ich mir den sowieso. Dann kann ich’s auch gleich tun.
Mein Alter Ego brummt etwas Unverständliches. Von der Krimiabteilung – wo ich mir einen Gerichtsthriller von Gianrico Carofiglio auswähle, denn schliesslich verbringe ich die Ferien in Apulien – geht’s mit dem Lift in die englischsprachige Abteilung hoch, wo ich eine Jubiläumsausgabe eines Wilkie-Collins-Romans finde, einen neuen Thriller von C.J. Tudor und die gesammelten Geistergeschichten von Henry James. Im Treppenhaus bleibe ich stehen, weil ich einen Chor zu hören glaube.
Alter Ego: Und wir? Sind wir deiner Aufmerksamkeit nicht wert? Nur weil wir schon ein paar Jahre, Monate oder Wochen alt sind, nicht mehr mit dem Reiz des Neuen locken können?
Ich: Sag mal, sprichst du echt gerade in der Stimme meines noch nicht gelesenen Bücherstapels? Alter Ego: Ich dachte, ich versuch’s mal mit der Emotionsschiene. Du hast noch Bücher, die du zu Weihnachten bekommen hast – und zwar vorletzte Weihnachten. Bücher von der letzten Londonreise, Bücher von befreundeten Autorinnen, dir persönlich gewidmete Bücher . . . Ich: Ja, du hast ja recht. Jetzt ist Schluss.
Auf dem Weg zur Kasse bleibe ich bei der queeren Literatur hängen. Statt ihn zu kaufen, notiere ich mir den Titel von Angelika Overaths neuem Roman nur.
Ich: Siehst du, ganz vernünftig. Alter Ego: Ja, gut. Aber ich verstehe nicht, warum du den neuen Ralf König nicht nimmst. Ich: Äh, ich sollte doch keine weiteren . . . Alter Ego: Ja, aber das ist ein Comic! Die Neunte Kunst! Das gehört unterstützt! Ralf wird es dir danken.
Ohne lange zu diskutieren, schnapp’ ich mir den Band, zahle an der Kasse, und mit zufriedenen Gesichtern verlassen ich und mein Alter Ego das Geschäft.
*Jeden Samstag veröffentlichen wir auf MANNSCHAFT.com einen Kommentar zu einem aktuellen Thema, das die LGBTIQ-Community bewegt. Die Meinung der Autor*innen spiegelt nicht zwangsläufig die Meinung der Redaktion wider.
Lauren John Joseph hat sich einen Namen als nicht-binäre*r Perfomance-Künstler*in, Autor*in und Journalist*in gemacht. Lauren John Joseph ist mit Solo-Theaterstücken auf der ganzen Welt aufgetreten, diverse Preise gewonnen. «Wo wir uns berühren» ist das Roman-Debüt (zum MANNSCHAFT+ Interview).
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