Aserbaidschan: das «vergessene Land»
Die für das Innenministerium arbeitende Polizei hat einige der Verhafteten gezwungen, Namen und Adressen von weiteren LGBT-Menschen anzugeben, die dann wiederum ebenfalls verhaftet und das gleiche dehmütigende Verhalten über sich ergehen lassen mussten. Viele wurden 20 oder 30 Tage lang festgehalten. In einer Erklärung äussert sich die Polizei, die Menschen seien wegen Prostitution verhaftet worden, nicht wegen ihrer sexuellen Orientierung oder Geschlechtsidentität. Menschen mit «nicht-traditioneller sexueller Orientierung» seien in der Innenstadt von Baku, der Hauptstadt Aserbaidschans, als Prostituierte unterwegs gewesen, heisst es in der Erklärung.
«Dass westliche Kreise versuchen, diese Kreaturen zu verteidigen, die Quellen der Unmoral, gefährlichen Krankheiten und von Gott verflucht sind, ist nur der Versuch, unsere nationalen Traditionen unter dem Deckmantel der Menschenrechte zu zerstören», sagt der stellvertretende Vorsitzende der «Justiz Partei» Ayaz Efendiyev.
Das aserbaidschanische Innenministerium sieht keine Diskriminierung von LGBT im eigenen Land. «Sexuelle Minderheiten sind in unserem Land nie verfolgt worden», sagte ein Sprecher. Das sieht ILGA-Europe, die europäische LGBT-Organisation, anders: im jährlich erscheinendem Bericht «Rainbow Europe» rangiert Aserbaidschan in diesem Jahr auf 49. Platz als Schlusslicht in Europa – noch hinter Armenien oder Russland (die Schweiz liegt auf Platz 26, Deutschland auf Platz 14).
Laut Aktivisten erpresste die Polizei mehrfach auch ungeoutete LGBT-Personen und versuchte sie als Zeugen in politisch motivierten Prozessen aussagen zu lassen – mit der Drohung, sie öffentlich zu outen, sollten sie sich weigern. Teilweise wurden LGBT-Personen wieder entlassen, nachdem sie den Behörden 90-300 USD bezahlt hatten.
Europäische Regierungen sind gefragt Javid Nabiyev organisierte 2014 die erste Gay-Pride in Baku und gründete die «Nefes LGBT Azerbaijan Alliance» – was ihm im eigenen Land zum Verhängnis wurde. Er musste vor massiven Diskriminierungen und Drohungen nach Deutschland flüchten. «Ich weiss gar nicht mehr, wie oft ich Diskriminierung in der Öffentlichkeit oder Gewalt durch die Polizei erlebt habe», sagt er der Mannschaft. «Nach der ersten Gay-Pride wurde die Lage immer gefährlicher, bis ich schliesslich gehen musste.» Heute lebt er in einem kleinen Zimmer in Deutschland, die weissen Wände sind geschmückt mit der Regenbogenflagge und der Landesfahne von Aserbaidschan. Er berichtet seit seiner Flucht nach Deutschland laufend über die LGBT-Situation in seinem Heimatland und ist nun auch Treiber und Sprachrohr in der aktuellen Verhaftungswelle. «Zur Zeit haben wir vier Anwälte, die sich ehrenamtlich für die Verhafteten einsetzen und Einspruch gegen die Klagen erhoben haben», sagt er der Mannschaft. Es sei besonders schwierig gewesen, alle Verhafteten zu finden, weil viele verängstigt seien und von der Polizei eingeschüchtert wurden. «Unsere Anwälte gehen seit Tagen von Polizeistation zu Polizeistation, um Informationen zu den betroffenen Menschen, zu den Anklagepunkten und zur Höhe der Bussen zu erfahren.»
Unterstützt in seiner Arbeit für die LGBT-Community in Aserbaidschan fühlt sich Javid in Deutschland nicht. «In den drei Jahren hier in Deutschland, habe ich unzählige Male versucht, die Aufmerksamkeit der hiesigen LGBT-Organisationen auf Aserbaidschan zu richten, was aber nie auf Interesse gestossen ist.» Es fühle sich an, als sei Aserbaidschan in Sachen LGBT-Rechte das «vergessene Land».
Javid fordert die deutschen Behörden auf, aktiv zu werden. «Das deutsche Aussenministerium hat die Kompetenz und Macht, bei der Regierung in Aserbaidschan Druck zu machen und damit ein Zeichen zu setzen, dass Deutschland die LGBT-Gemeinschaft nicht alleine lassen will». Die Forderung zu Handeln, gelte selbstredend auch für die Schweizer Regierung. Besonders streicht er die Rolle des Europarates hervor, dessen Mitglied auch Aserbaidschan (und auch Deutschland oder die Schweiz) ist. Er appelliert an alle Parlamentarier_innen des Europarates, mit den Vertreter_innen von Aserbaidschan die schwierige Lage für LGBT anzusprechen und zum Thema zu machen.
Opfer geschlagen, gedemütigt und auf Social Media ausgefragt Die Situation für LGBT-Menschen erscheint beängstigend. A.*, eine verhaftete Transfrau, erzählt: «Ich wurde brutal geschlagen. Es gibt fast keine unversehrte Stelle mehr auf meinem Körper. Ich wurde rasiert, verleumdet und bedroht. Obwohl mehrere internationale Organisationen mir und meinem Freund Hilfe anboten, um mich und meinen Freund aus dem Land herauszuholen, weigere ich mich, meine Heimatstadt Baku in diesem Moment zu verlassen.»
Lokale Aktivisten_innen berichten zudem von rätselhaften Nachrichten via Social Media. Sie zeigen, wie sie Nachrichten von gefälschten Profilen in sozialen Netzwerken erhalten haben, die LGBT-Personen einladen, sich zu treffen. Eine unbekannte Person beginnt das Gespräch, indem sie sagt: «Ich bin eine Transfrau und diese Verhaftungen sind eine Lüge. Niemand wurde verhaftet. Treffen wir uns. Ich suche Arbeiter_innen in meinem Büro. Erzähle deinen anderen Freunden, dass ich dafür gut bezahlen werde und dann treffen wir uns. Nachdem die angesprochene LGBT-Person sich weigert und sagt, sie wisse, dass es sich um ein Fake-Profil handelt, reagiert der_die Schreiberling verärgert und beleidigend: «Wir werden schnell rausfinden wer du bist und wo du lebst.».
HIV-Prävention als Vorwand? Wie der Pressedienst des Innenministeriums in Aserbaidschan mitteilte, wurden bei 16 der festgenommene Menschen, die Diagnose «AIDS oder Syphilis» diagnostiziert. Es macht den Anschein, als werde versucht, die Verhaftungen als Präventionskampagne gegen Geschlechtskrankheiten zu verkaufen. «Das aserbaidschanische Innenministerium verstand rasch, dass es für sie «vorteilhaft» sei, die HIV-Prävention in Zusammenhang mit den Verhaftungen zu setzen,», so Javid. Auch der betreffende Minister, Ehsan Zahidov, bestätigte, dass die inhaftierten Personen einer «obligatorischen medizinischen Untersuchung» unterzogen worden seien und bei diesen mehrere Geschlechtskrankheiten gefunden wurden. Nachdem Aktivisten diesen vorgeschoben Vorbehalt öffentlich gemacht hatten, wiederspricht sich der Minister in einem zweiten Statement wieder und sagt, dass solche Pflichtuntersuchungen «im Widerspruch zu den entsprechenden Artikeln des Gesetzes über Zwangsuntersuchungen stehen». Die regierungsnahe aserbaidschanische Presse schreibt, die Häftlinge seien «mit den gefährlichsten Krankheiten infiziert, einschliesslich AIDS», eine beliebtes Online-Forum berichtete freudig über die Verhaftungen unter der Überschrift «Die Jagdsaison auf Homosexuelle ist eröffnet.».
Unabhängig davon, warum genau die LGBT-Menschen nun festgenommen wurden, versuchen Aktivisten und Menschenrechtsorganisationen, sie aus dem Gefängnis zu bringen und mit rechtlichem Beistand zu unterstützen. ILGA-Europe und Stonewall UK werden demnächst Spenden für die notwendigen Anwaltskosten sammeln.
ILGA-Europe wollte sich auf Anfrage der Mannschaft nicht konkret äussern. Sie prüfe zur Zeit die Faktenlage und verweist auf ihre aktuellste Medienmitteilung. Dort äusserst sich Direktorin Evelyne Paradis kritisch: «Die Versuche der Behörden in Aserbaidschan, diese Inhaftierungen herunterzuspielen, sind nicht überzeugend».
Es sei schon beunruhigend genug, dass LGBT-Menschen gezwungen werden, sich gegen ihren Willen medizinisch untersuchen lassen zu müssen, «aber wir haben auch zahlreiche Berichte über verbale und körperliche Übergriffe erhalten. Es gibt keine Rechtfertigung für diese wahllose Zielgruppenansprache von Menschen, die als Mitglieder der LGBT-Gemeinschaft wahrgenommen werden. Es ist ein klarer und schwerwiegender Verstoss gegen die Europäische Menschenrechtskonvention.»
Der Europarat hat sich noch nicht zur Situation in Aserbaidschan geäussert. Auch die Schweiz und Deutschland haben sich bislang noch nicht öffentlich verlauten lassen.
* Name der Redaktion bekannt
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