«Tanzen ist Sport, Kunst und Paartherapie»
Aber nicht Freestyle im Club oder bei Partys ...
Seit über 20 Jahren nehmen Judith und Helene bei Tanzsportturnieren in ganz Europa teil. Um bei der Jury zu punkten, braucht es neben Technik und Taktgefühl auch ein Talent für Entertainment. Und viel harte Arbeit.
Wo bald Judith den gelben Punkt auf den Unterarm geklebt hat, gilt es ernst. Bei Helene ist es ein roter. Die beiden Frauen stehen Hand in Hand am Rande der Tanzfläche im gleissenden Licht des Scheinwerfers, über den Lautsprecher hören sie ihre Namen. Sie schauen sich kurz in die Augen und geben sich einen festen Drücker, bevor sie auf das Parkett schreiten.
Judith Wildi und Helene Grob sind ein Tanzsportpaar. Ein gleichgeschlechtliches. Da reine Männer- und Frauenpaare bei vielen Turnieren nicht zugelassen sind, organisieren sich die Tänzer*innen selbst. Die Rede ist von Equality-Tanzsport, der in verschiedenen Ländern Europas von Vereinen betrieben wird, so etwa in Deutschland, Österreich oder Grossbritannien. Die letztjährigen Europameisterschaften im gleichgeschlechtlichen Paartanz fanden in Bern im Rahmen der Eurogames statt. Für Judith und Helene ein Heimspiel.
Nicht Freestyle im Club oder bei Feten: Ich wollte tanzen mit dem ganzen Drum und Dran.
Glamourös und doch technisch Das Tanzen hat Judith schon immer fasziniert. «Und damit meine ich nicht Freestyle im Club oder bei Feten. Das war nie mein Ding», sagt sie. «Ich wollte tanzen mit dem ganzen Drum und Dran.» Bei Helene war es das Technische, durchgetaktete Bewegungen und komplexe Schrittabfolgen, das den Reiz am Tanzsport ausmachte. Nachdem die beiden Frauen 2000 ein Paar geworden waren, besuchten sie gemeinsam einen Hobby-Tanzkurs. Judith, die mehr Erfahrung besass, nahm die führende Rolle ein.
Als die Eurogames 2000 das letzte Mal in der Schweiz stattfanden, sassen Judith und Helene beim Tanzturnier im Publikum. Heute bezeichnen sie das Erlebnis als Initialzündung ihrer Tanzsportkarriere. Männer mit Federn, Boas und Glitzersakko wirbelten beim Samba über die Tanzfläche. Frauen mit Hosen und kurzen Haaren tanzten den Walzer. Sie waren begeistert. Abgesehen vom Bruch mit den Geschlechterrollen standen die Paare ihren heterosexuellen Kolleg*innen im Mainstream-Sport in nichts nach. «So wie die tanzten, das wollten wir auch», erinnert sich Helene. Die beiden Frauen waren überzeugt: Bei den Eurogames 2004 in München wollten sie nicht im Publikum, sondern auf der Tanzfläche sein.
In den darauffolgenden vier Jahren arbeiteten Judith und Helene auf ihr Ziel hin und besuchten einen wöchentlichen Gruppenkurs zur Turniervorbereitung. Für die Europameisterschaften müssen Paare bis zu zehn Stile meistern: die fünf Standardtänze Langsamer Walzer, Tango, Quickstep, Wiener Walzer und Slowfox sowie die fünf Lateintänze Rumba, Cha Cha Cha, Jive, Samba und Paso Doble. Je nach Niveau werden sie zu Beginn des Turniers in die vier Leistungsklassen A, B, C, oder D eingeteilt. Sieben Wertungsrichter*innen beurteilen die Musikalität und den Takt, den Bewegungsablauf und die Technik, die Charakteristik des Tanzes sowie den persönlichen Ausdruck des Paares.
Die Enttäuschung in München Der Tanzsport wurde zur Leidenschaft von Judith und Helene, die Hingabe im Training ihre grosse Gemeinsamkeit. Doch es gab auch Unterschiede. Eine Woche vor den Eurogames 2004 eröffnete Helene, dass sie nicht sicher sei, ob sie am Turnier antreten wolle. «Ich tanze und trainiere unheimlich gerne. Wettkämpfe sind mir jedoch nicht wichtig, ich muss nicht im Mittelpunkt stehen», sagt sie. Nicht so Judith: «Für mich ist es ein alter Mädchentraum: An einen schönen Ort zum Ball gehen, eine aufwändige Frisur, schöne Kleider und Make-up tragen – das gehört für mich alles dazu.»
Sie beschlossen trotzdem nach München zu fahren. Die Europameisterschaften fanden in der imposanten Olympiahalle mit über 10’000 Sitzplätzen statt. «Es war riesig und in allen Bereichen überfordernd», erinnert sich Judith. «Wir kamen nicht zurecht mit den vielen Menschen, der Musik und der Tanzfläche.»
Judith und Helene landeten auf den letzten Plätzen der tiefsten Leistungsklasse. Helene hatte bereits Erfahrung als Sportlerin und konnte die Niederlage hinnehmen. Judith hingegen war «wahnsinnig enttäuscht». «Enttäuscht, dass etwas, dass ich so gern tue, wofür ich so viel investiert habe . . . dass das nicht wertgeschätzt wird», sagt sie. «Die ganze Zugfahrt zurück in die Schweiz habe ich geweint.»
Zuhause angekommen rappelten sich die beiden Frauen wieder auf. München hatte das Feuer in ihnen geweckt und ihnen wichtige Lektionen mit auf den Weg gegeben. Ihnen wurde klar: Wollten sie nicht auf den letzten Rängen landen, so mussten sie intensiver trainieren. Zusammen mit einem anderen Paar engagierten Judith und Helene einen Trainer für Privatstunden und mieteten einen Raum. «Wir hatten ein klares Ziel: Wir wollten einmal in der Leistungsklasse B tanzen», sagt Helene.
Das Tanzen beginnt nicht mit der Musik, sondern sobald du deine Turnierkleidung ange-zogen hast.
Sie spielten Extremsituationen durch: Mal spielten sie sehr anspruchsvolle Musik, mal stellten sie Stühle als Störfaktoren auf die Tanzfläche. Sie übten das Betreten der Tanzfläche, das Hinstehen und das Verbeugen. «Man darf nicht vergessen, dass es auch eine Show ist», sagt Judith. «Das Tanzen beginnt nicht mit der Musik, sondern sobald du deine Turnierkleidung angezogen hast.»
Das harte Training zahlte sich aus. Am Nordic Open 2006 in Kopenhagen gewannen Judith und Helene ihre erste Medaille: Bronze im Latein. Die grosse Überraschung folgte bei den Eurogames 2008 in Barcelona. Die Frauen hatten einen früheren Start in der Leistungsklasse C erwartet, als ihr Sitznachbar ihnen zuraunte: «Ihr seid ein B-Paar!» Judith und Helene rannten bei 35 Grad zurück ins Hotel, um ihre Lateinkleider zu holen, um die nachfolgenden Starts nicht zu verpassen. «Doch unter diesen Umständen machten wir das gerne», lacht Judith.
Als Paar gewinnen und verlieren Als Sportart mit Showcharakter ist der Turniertanz neben dem körperlichen Einsatz auch psychisch anspruchsvoll. Die beiden Frauen verfeinerten über Jahre hinweg ihren Auftritt und führten Rituale ein, unter anderem mit Erkenntnissen, die Helene aus einer Weiterbildung über mentales Training im Sport gewonnen hatte. «Sobald wir den roten und den gelben Punkt aufgeklebt haben, sind wir im Turniermodus», sagt Helene. «Wenn wir vor unserem Start neben der Tanzfläche stehen, halten wir uns an den Händen und schauen uns immer noch kurz in die Augen.» Judith ergänzt: «Zu keinem Zeitpunkt lassen wir uns aus der Ruhe bringen, ganz nach dem Motto ‹Champions have time›.»
Die Arbeit als Paar erfordert neben Geduld auch Nachsicht. «Selbst wenn wir stets fehlerlos tanzen wollten, haben wir kaum einen Durchgang ohne Fehler», sagt Helene. «Man muss sie vergessen und nach vorne schauen. Wir gewinnen als Paar und verlieren als Paar.»
Im Tanzsport erlebe man viele Paare, die oft oder dauernd streiten. «Wir sind auf und auch abseits der Tanzfläche ein Paar. Es ist ein grosses Geschenk für mich, beides kombinieren zu dürfen», sagt Judith. «Wir mussten lernen, uns mit uns selbst auseinanderzusetzen. Tanzen ist Sport, Kunst und Paartherapie.»
«Politisches Tanzen» Im Kreise des Equality-Tanzsports sind über die Jahre gute Freundschaften mit Paaren aus den unterschiedlichsten Ländern entstanden, bei den Turnieren sind es oft die gleichen Gesichter. Man ist unter Gleichgesinnten, man könnte schon fast Familie sagen. «Es gab Zeiten, da opferten wir sämtliche Urlaubstage und besuchten bis zu zehn Turniere im Jahr. Da entsteht was», sagt Judith. Für sie und Helene bietet der Tanzsport in erster Linie Musik, Bewegung, Zeit mit Freund*innen und ein Entfliehen aus dem Alltag. Aktivismus – oder «politisches Tanzen», wie Helene es mit gehobenen Augenbrauen nennt – ist es hingegen nicht. Was nicht heisst, dass ihnen die Sichtbarkeit von gleichgeschlechtlichen Tanzpaaren nicht am Herzen liegt.
Als sich die Schweizer Tanzsportszene vor ein paar Jahren mit einer möglichen Öffnung zu beschäftigen begann, gab sie gleichgeschlechtlichen Paaren erstmals die Möglichkeit, in einer eigenen Kategorie an Turnieren zu starten. Judith und Helene meldeten sich an, um ein Zeichen zu setzen. «Wir wollten zeigen, dass es uns gibt», sagt Judith. Nach der Siegerehrung – die gemischtgeschlechtlichen Gewinnerpaare hatten ihre Medaillen und Blumensträusse bereits erhalten – suchte eine Freundin Judith und Helene in der Umkleide auf, um ihnen von der soeben veröffentlichten Rangliste zu erzählen. Judith und Helene hatten die beste Tageswertung und waren auf dem ersten Platz.
Wären sie gleichgestellt zugelassen gewesen, hätten sie das Turnier gewonnen. Darüber freuen konnten sie sich nicht, das Ziel der Sichtbarkeit schien verfehlt. «Die Medaille und der Blumenstrauss waren mir egal», sagt Judith. «Mit einem kurzen Satz hätte man bei der Siegerehrung erwähnen können, dass zwei Frauen am besten bewertet wurden. Eine solche Form der Anerkennung wäre für den Equality-Tanzsport und mich wichtig gewesen.»
Ein teurer und zeitintensiver Sport Judith und Helene schauen auf eine knapp zwanzigjährige Karriere im gleichgeschlechtlichen Turniertanz zurück. 2011 schafften sie es ins A-Finale und tanzen seither in den höchsten Leistungsklassen im Standardtanz. Eine Kiste mit Medaillen zeugt von ihren Leistungen. «Ich weiss gar nicht, wie viele es sind», sagt Judith und blickt fragend zu Helene. Diese erwidert: «Es sind viele.» Zu ihren grössten Erfolgen zählt Silber am Nordic Open Kopenhagen 2017 in der A-Klasse und Bronze bei den Europameisterschaften 2021 bei den Standardtänzen in der A-Klasse Seniorinnen. 2014 holten sie in Blackpool Gold in der C-Klasse bei den Lateintänzen. Doch damit ist bald Schluss. Die Europameisterschaften 2023 in Bern werden, so sind Judith und Helene überzeugt, ihr letztes Turnier sein.
«Wir wollten früher aufhören. Als wir aber hörten, dass Bern die Eurogames ausrichten wird, war für uns klar, dass wir bis dahin weitermachen wollen», sagt Judith. Der Leistungssport erfordere mit mehreren Trainings pro Woche einen grossen Zeitaufwand, der nicht zu unterschätzen sei. «Sich abends nach der Arbeit um 20 oder 21 Uhr nochmals einen Ruck zu geben und mit voller Energie bei der Sache zu sein, ist nicht immer einfach», sagt Helene. Ganz zu schweigen von den Kosten für Training, Reisen, Kleidung und Turniere. «Wir haben viel Zeit und Geld investiert.»
Wir möchten auf einem hohen Niveau aufhören und nicht nach hinten gereicht werden
«Wir möchten auf einem hohen Niveau aufhören und nicht nach hinten gereicht werden», sagt Judith. «Wir sind zwar nicht die Ältesten, gehören aber zu den Älteren, und merken schon, dass sich unsere Sportlichkeit und Dynamik im Vergleich zu früher verändert hat. Wir müssen mehr leisten, um unser Niveau zu halten.»
Unterstütze LGBTIQ-Journalismus
Unsere Inhalte sind für dich gemacht, aber wir sind auf deinen Support angewiesen. Mit einem Abo erhältst du Zugang zu allen Artikeln – und hilfst uns dabei, weiterhin unabhängige Berichterstattung zu liefern. Werde jetzt Teil der MANNSCHAFT!
Das könnte dich auch interessieren
Premier League
Regenbogenbinde verweigert: Ipswich Town verteidigt Sam Morsy
Ipswich-Town-Kapitän Sam Morsy lehnt aus religiösen Gründen das Tragen der Regenbogen-Kapitänsbinde ab. Der Verein stellt sich hinter ihn und betont gleichzeitig das Engagement für Inklusion und Unterstützung der LGBTIQ-Community.
Von Newsdesk Staff
News
Sport
Unterhaltung
«Glücklicher als je zuvor»: Die Coming-outs 2024
Zum Ende des Jahres schauen wir noch einmal zurück und feiern die vielen nationalen wie internationalen Coming-outs der Promis aus den Bereichen Sport, Politik und Kultur.
Von Carolin Paul
Politik
Sport
Kultur
People
Coming-out
Österreich
Österreich: Verbot von «Konversionstherapien» durch die Hintertüre
Kurz vor der Bildung einer neuen Regierung hat das Gesundheitsministerium überraschend eine Stellungnahme über die Strafbarkeit von «Konversionstherapien» veröffentlicht.
Von Christian Höller
News
Aktivismus
Politik
Kolumne
Der Sirenengesang der Schokolade
Es beginnt harmlos: ein Nachmittag, ein Schrank, eine Tafel Schokolade. Doch kaum streckt unser Autor die Hand aus, meldet sich seine innere Stimme zu Wort.
Von Mirko Beetschen