Statement und Selbstidentifikation – Mehr als nur Haare
Warum es auch eine wichtige Rolle spielt, was wir auf dem Kopf tragen
Haare sind seltsam. An den richtigen Stellen vergöttern, an den falschen Orten verachten wir sie. Sie tragen zu unserem persönlichen Wohlbefinden bei, setzen aber auch politische Statements.
Wenn Pino Zinna in seinem Salon die abgeschnittenen Haare zusammenwischt, wird ihm ihr vergänglicher Wert immer wieder bewusst. Bis vor wenigen Augenblicken waren sie noch auf dem Kopf einer Person, wo sie gepflegt und sorgfältig gestylt Teil des Looks waren, den diese als Ausdruck ihrer Persönlichkeit gewählt hatte. Nun wandern sie in den Müll, wie auch die Haare, die wir zuhause voller Abscheu aus dem Abfluss der Badewanne fischen. Hin und wieder bewahrt Zinna die abgeschnittenen Haarbüschel auf und setzt sie schöpferisch um, etwa in Form von Mandalas für Kunstmessen.
Hauptberuflich ist Pino Zinna jedoch Friseur und seit über 30 Jahren im Geschäft. In den Neunzigerjahren frisierte er Topmodels wie Linda Evangelista in Paris und jettet auch heute noch an die eine oder andere Fashionweek in New York oder Mailand. In Bern führt Zinna die Salons CoiffYourSuccess und CoiffYourSuccess 2. Er unterstützt Mannschaft Magazin seit der Gründung 2010, sei es am Set von Fotoshootings oder mit Anzeigen.
Haare sind identitätsstiftend Wie wichtig unsere Haare für unser Wohlbefinden sind, dürfte uns die Corona-Pandemie vor Augen geführt haben, als sämtliche Friseursalons den Betrieb einstellten. Das kriegte auch Zinna zu spüren. «Ich habe bei den Kund*innen eine grosse Dankbarkeit für einen Job gespürt, der bis anhin als selbstverständlich galt», sagt er.
Während Friseursalons in Deutschland und Österreich auch im zweiten Lockdown wieder dichtmachen mussten, durften sie in der Schweiz hingegen offen bleiben. Ob der Bundesrat die Wichtigkeit eines Friseurbesuchs für das Gemüt erkannt hatte? Jedenfalls konnten die Schweizer Blumenläden im zweiten Lockdown ebenfalls öffnen. «Auch Blumen können Güter des täglichen Bedarfs sein», lautete die Begründung des Bundesamts für Gesundheit.
Wie man die eigenen Haare trägt, spielt neben der Selbstwahrnehmung auch für die Fremdeinschätzung eine grosse Rolle. Die Gesellschaft vermittle uns von früh auf die Werte, die wir mit einer Frisur in Verbindung zu bringen hätten, sagt Soziologieprofessorin Paula-Irene Villa Braslavsky gegenüber der Sonntagszeitung. «Ist jemand vertrauenswürdig oder gefährlich? Arm oder reich? So wie ich oder anders?» In der Moderne mit Grossstädten und dichten Formen des Zusammenlebens sei es zentral, auf den ersten Blick entscheiden zu können, ob man sich zum Beispiel in der U-Bahn neben jemanden setzt oder nicht.
Männer sind weniger an dir interessiert. Das bedeutet weniger Angebote für einen Dreier und weniger sexuelle Gewalt.
Protest und Selbstschutz: der lesbische Kurzhaarschnitt Diese Mechanismen machen auch vor der LGBTIQ-Community nicht halt. So sei der Kurzhaarschnitt für Lesben nicht nur ein Erkennungszeichen gegenüber anderen frauenliebenden Frauen, sondern auch ein stiller Protest gegen die gesellschaftlichen Ideale weiblicher Schönheit, schreibt Bloggerin Jenna Wimshurst. Nicht zuletzt sei ein «männlicher» Haarschnitt auch eine Schutzmassnahme. «Männer sind weniger an dir interessiert. Das bedeutet weniger Angebote für einen Dreier und weniger sexuelle Gewalt», sagt sie.
Analog galten Männer, die sich zu intensiv mit ihren Haaren und ihrem Äusseren beschäftigten, lange als schwul. Ein Wendepunkt zeichnete sich in den Neunzigerjahren mit der Entstehung des Begriffs «metrosexuell» ab, der heterosexuellen Männern die Zusicherung gibt, dass es okay ist, sich um sein Äusseres zu kümmern. Prominentes Beispiel hierfür: Fussballer David Beckham, der zu dieser Zeit mit seiner häufig wechselnden Haarpracht regelmässig für Schlagzeilen sorgte.
Frisuren als Merkmal einer Gesellschaft Gesundes Haar symbolisiert Schönheit, Kraft, Virilität und Jugend. Es erstaunt daher nicht, dass von Haarausfall betroffene Menschen einen grossen Leidensdruck verspüren.
Ein Blick in die Geschichte offenbart die zentrale Rolle, die Frisuren in allen Kulturen und Gesellschaften der Menschheit gespielt haben und immer noch spielen. Im alten Rom setzten Kaiser mit Kurzhaarschnitten bewusst einen Gegenpol zu den langhaarigen Barbarenvölker. Im Barockzeitalter grenzte sich die Aristokratie mit Langhaarperücken vom struppigen Haar der niederen Klassen ab.
Frisuren können auch als Zeichen der Unterwerfung und somit der Zugehörigkeit gedeutet werden. Mandschu-Herrscher zwangen im 17. Jahrhundert den Han-chinesischen Männern das Tragen eines langen Zopfes auf. Institutionen wie Kloster, Gefängnisse und das Militär, die jegliche Formen der Individualität unterdrücken wollen, rasieren den Menschen ihre Haare und stecken sie in Uniformen. In den USA kommen immer wieder Fälle von Firmen ans Licht, die dunkelhäutige Menschen entlassen, weil diese ihr Haar natürlich tragen statt es zu glätten. Kalifornien und New York waren 2019 die ersten Bundesstaaten, die eine Diskriminierung am Arbeitsplatz aufgrund von Dreadlocks, Locken und Flechtfrisuren verboten.
Queere Inspirationen Dank Internet und sozialen Medien entwickeln sich Haartrends heute dynamisch und auf globaler Ebene. Es sind nicht länger nur Prominente und Starfriseur*innen, die trendige Haarschnitte vorgeben, die dann einige Jahre en vogue bleiben. Wer sich mit dem Smartphone gekonnt in Szene setzt, kann Millionen von Menschen erreichen und Trends setzen. Viele Frisuren, die von Sport- und Popstars als Statement getragen wurden – man denke etwa an den Irokesenschnitt oder an Dreadlocks –, sind bereits kommerzialisiert worden und heute salonfähig. Selbst die vor einigen Jahren noch so verschmähte Vokuhila feierte jüngst ihr Comeback. «Eine wirklich rebellische Frisur würde mir heute nicht mehr einfallen», so Soziologin Villa Braslavsky.
Die fortschreitende Gleichstellung von LGBTIQ-Menschen und das Aufbrechen von Geschlechterrollen hinterlassen ihre Spuren auch in der Modewelt. Dies zeige sich in den Frisurentrends, sagt Pino Zinna. «Einerseits gibt es vermehrt Frauen, die ihr Haar kurz tragen. Andererseits tendieren Männer nach Jahren von Millimeterschnitten wieder zu längeren Haaren.» Bei ihnen sei auch die Nachfrage für Dauerwellen gestiegen.
«Es gibt eine Aufbruchsstimmung, ähnlich wie Ende der Siebziger und Anfang der Achtziger. Auf den Modeschauen sieht man vermehrt Unisexmode und starke Schnitte, danach richten sich auch die Frisuren.» Pino Zinna setzt längere Haare mit Freiheit und Abenteuer gleich. Ein Gefühl, mit dem er in dieser Pandemie wohl vielen Menschen aus dem Herzen sprechen dürfte.
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