So leidet der LGBTIQ-Aktivismus weltweit unter der Pandemie
Berichte aus Russland, Uganda, Südafrika, Nicaragua und dem Westbalkan
In Zeiten von Corona wird die Arbeit von LGBTIQ-Aktivist*innen erschwert, etwa dadurch, dass sie Abstand halten müssen, wo persönliche Begegnungen nötig sind. Der Lesben- und Schwulenverband berichtet über die Erfahrungen seiner internationalen Partnerorganisationen.
Russland Das Team von Side by Side, dem St. Petersburger Filmfestival, berichtet, russlandweit gelte im Arbeitsleben eine «Auszeit», ohne dass der Staat Hilfen für Firmen vorsehe. So kürzten die Arbeitgeber Löhne und kündigten vielen Angestellten. Die wirtschaftliche und soziale Situation sei im ganzen Land dramatisch. Viele kleinere und mittlere Unternehmen gingen pleite. Die Menschen seien verzweifelt. Im medizinischen Bereich fehle es an allem: Masken, Tests, guter Organisation und auch an Betten, denn die Zahl der Krankenhäuser im Land habe sich in den letzten 20 Jahren halbiert.
«Asexuelle und trans Menschen fühlen sich deutlich einsamer»
Die Situation der LGBTIQ-Community habe sich verschlechtert, weil viele Anlaufstellen geschlossen seien. Zwar finden Beratungen online statt, doch die Treffpunkte seien zu. Zudem führten die Ausgangsverbote und Selbstisolation zu mehr (häuslicher) Gewalt. Vor allem für trans* Personen sei es in staatlichen Wohnheimen oder gemieteten Gemeinschaftswohnräumen zunehmend gefährlich.
Uganda Frank Mugisha vom Sexual Minorities Uganda (SMUG) berichtet, dass seit der Pandemie die ohnehin drastische Homophobie und Transfeindlichkeit in dem afrikanischen Land noch zugenommen haben. So machen manche Vertreter*innen aus Politik und Religion LGBTIQ für den Ausbruch der Pandemie verantwortlich. In Quarantäne seien viele LGBTIQ Opfer von Gewalt geworden. Gerade in den Familien habe es Fälle von häuslicher Gewalt gegeben. Die Isolierung traumatisiere viele Jugendliche und leiste mentalen Gesundheitsproblemen Vorschub.
Schwul in Turkmenistan – von der Polizei geschlagen und erpresst
SMUG unterstütze sie mit Nahrungsmitteln oder Hygieneartikeln und biete auch Schlafplätze für obdachlose LGBTIQ an. Man fordere die LGBTIQ-Community auf, sich an die Richtlinien der WHO und des Gesundheitsministeriums zu halten, das heisst zu Hause zu bleiben und die Hygieneregeln zu beachten.
Nicaragua In Nicaragua kann von Richtlinien des Gesundheitsministeriums keine Rede sein. Jose Ignacio vom Red de Desarrollo Sostenible berichtet, die Regierung halte sich nicht an die Empfehlungen der WHO, um die Pandemie einzudämmen. Im Gegenteil: Weder Schulen noch Grenzen wurden geschlossen, über 80 Veranstaltungen wurden in dem kleinen mittelamerikanischen Land in der Karwoche und an Ostern durchgeführt.
Die grosse Mehrheit der LGBTIQ-Community habe kaum Zugang zu den Leistungen des Gesundheitssystems. Verschärft werde ihre prekäre Situation durch den Verlust von Jobs, meist im informellen Sektor, Obdachlosigkeit, Gewalt, Stigmatisierung und Hasspredigten religiöser Eiferer.
Westbalkan Amarildo von der LGBTI Equal Rights Association ERA in Belgrad hebt hervor, dass die Menschen des Westbalkans seit über einem Monat im Ausnahmezustand leben. Eine Aufhebung oder Lockerung der Massnahmen sei derzeit noch nicht in Sicht. Der öffentliche Transport sei eingestellt, Zusammenkünfte von mehr als zwei Personen seien verboten. LGBTIQ-Organisationen haben ihre Büros geschlossen, man arbeite im Homeoffice. Alle Aktivitäten wurden abgesagt, verschoben oder werden als online-Events durchgeführt.
Es bestehe die Gefahr, dass die psychische Gesundheit aufgrund der langen Isolation und des fehlenden Kontakts mit Verwandten und anderen geliebten Menschen Schaden nehme. Die wirtschaftlichen Härten führten zu Arbeitslosigkeit, Obdachlosigkeit und Perspektivlosigkeit bei vielen LGBITQ in der Region. Hinzu kämen die Fälle von häuslicher Gewalt vor allem bei jungen LGBTIQ.
Corona oder: Weil wir von der HIV-Epidemie gelernt haben
Kapstadt «Wir sind in der dritten Woche des Lockdown und dürfen nur zum Arzt oder in die Apotheke und in den nächstgelegenen Laden, um uns mit dem Notwendigsten zu versorgen», schreibt Ecclesia de Lange von Inclusive and Affirmative Ministrier IAM. Zurzeit würden Umfragen durchgeführt, um den Bedarf der LGBTIQ-Community im Land zu eruieren. Zudem warte man auf Neuigkeiten der regionalen Partner aus den Nachbarländern.
Auch die IAM-Mitarbeitenden arbeiten im Home Office, denn die Gesundheit gehe einfach vor. Sie experimentieren mit online-Plattformen, um zu lernen, was am besten funktioniert und wie die Aktivitäten fortgesetzt werden können. Wöchentlich treffe man sich online im Teammeeting. IAM-Förderer und Sponsoren hätten wertvolle Unterstützung geleistet, durch die Finanzierung von Lizenzen, neuen Computern und Ratschlägen.
Alternativen für persönliche Begegnungen gesucht Für Frank Mugisha von Sexual Minorities Uganda SMUG ist die Arbeit zu einem Kraftakt geworden, vor allem weil er Abstand halten muss, obwohl die Arbeit meist persönliche Begegnungen erfordere. Der Lockdown bringe es mit sich, dass Fahrten von einem Ort zum anderen fast unmöglich geworden sind. Die Dokumentation von Hassgewalt, die Arbeit mit Opfern, die Besuche von LGBTIQ im Gefängnis bei Einschränkungen der Besucherzahlen und Besuchszeiten, all das sei kaum mehr zu leisten. SMUG arbeite nunmehr mit den Mitgliedern vor Ort, die sich lokal um Fälle von Gewalt und Opfer kümmern.
Community vs. Corona: So geht queere Solidarität!
Auch die Kolleg*innen in Nicaragua haben beschlossen, von zu Hause aus zu arbeiten. «Ich bin heute ins Büro gekommen, weil in meinem Viertel zwei Wochen lang täglich das Wasser abgestellt wurde. Unerträglich. Im Büro funktioniert die Wasserversorgung weiterhin. Jetzt im Sommer ist es sehr trocken, sehr heiß, windig und staubig. Dadurch gibt es mehr Atemwegserkrankungen, die mit Beginn der Regenfälle im Mai nochmal zunehmen werden», schreibt José Ignacio.
Die Fälle atypischer Lungenentzündungen seien sprunghaft angestiegen, mehr als tausend Fälle wurden gemeldet, während es normalerweise nicht mehr als 500 solcher Fälle im Jahr gebe. Die Strategie für die Durchführung ihrer Aktivitäten müssen sie also sorgfältig prüfen. Was ist überhaupt noch machbar, was nicht? In Nicaragua habe man noch keine Vorstellung vom Ausmass der Krise. Fachleute befürchten, so José Ignacio, dass wegen der bald einsetzenden Regenfälle die Zahl der Infizierten bis Ende Juni, Anfang Juli sprunghaft ansteigen werden.
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Amarildo von ERA in Belgrad geht davon aus, dass Gay Pride-Veranstaltungen und andere Treffen, die für die Sichtbarkeit so immens wichtig sind, in diesem Jahr im Westbalkan nicht stattfinden oder auf das nächste Jahr verschoben werden. Aktivist*innen in Slowenien, Serbien und anderen Ländern blicken besorgt nach Ungarn, so Amarildo, und fürchten die negativen Auswirkungen der Krise auf die Menschenrechts- und Minderheitenpolitik rechter und nationalistischer Regierungen. (MANNSCHAFT berichtete).
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