Schwule und Mode – Paradiesvögel oder graue Mäuse?
Der homosexuelle Mann hat ein treffsicheres Stilempfinden … oder?
Welche Rolle kommt Schwulen in Sachen Style zu? Sind wir extrovertierte, impulsgebende Avantgardisten oder doch nur überangepasste Abziehbilder heteronormativer Vorstellungen? Zwei «Germany’s Next Top Model»-Veteranen, der Stylist Armin Morbach und der Designer Michael Michalsky, diskutieren, was am Stereotyp des trendbewussten Schwulen dran ist.
Glaubt man einem weitverbreiteten Klischee, wird dem schwulen Mann ein treffsicheres Stilempfinden schon bei der Geburt mit in die Wiege gelegt. Anders lässt sich auch der Erfolg von TV-Formaten wie «Shopping Queen» oder «Queer Eye» nicht erklären. Shows, bei denen homosexuelle «Experten» das Leben ihrer Kandidat*innen mithilfe modischer Kniffe aufzuwerten versuchen. An wissenschaftlichen Belegen dafür, dass die sexuelle Orientierung in irgendeiner Weise mit Geschmackssicherheit korreliert, mangelt es aber (noch).
Im alltäglichen Leben zeigen viele Schwule wenig Modeempfinden.
Mode ist schwul Modeschöpfer, Friseure, Make-up-Artists und Herausgeber von Fashion-Magazinen – in der Beauty-Branche wimmelt es nur so vor Homosexuellen. Und zwar deutlich stärker als in anderen Bereichen des alltäglichen Lebens. Doch inwiefern wirkt sich das auch auf das aus, was Max Mustermann und Erika Musterfrau morgens aus dem Schrank fischen, wenn sie sich für den Tag fertig machen? «Was stimmt, ist, dass die grössten modischen Trends auf dieser Welt von schwulen Männern gemacht werden. 90 % der Designer sind homosexuell», erklärt Armin Morbach, Stylist, Fotograf und Herausgeber des Magazins Tush. «Versucht man das aber ins alltägliche Leben zu übersetzen, sieht es schon ganz anders aus. Da zeigen viele Schwule nämlich wenig Modeempfinden.»
Stattdessen grassiere ein immer gleicher Einheitsbrei, der von gähnender Langeweile geprägt sei, mahnt Morbach. «Ich glaube, die schwule Gemeinschaft hat die grösste Kaufkraft bei Basic-Shirts und Jeans. Die wenigsten besuchen Fashion-Websites oder lesen Modezeitschriften. Stattdessen sind der beste schwule Kumpel oder die Auslage bei Zara und Co. feste Orientierungsgrössen.» Aussagen, die nicht wirklich für eine Vorreiterstellung Homosexueller sprechen, wenn es darum geht, Fashion-Hypes zu generieren. Oder gibt es etwa doch Trends, deren Ursprünge sich klar in der LGBTIQ-Szene verorten lassen?
Am schnellsten mit der Adaption sind Fussballer
Übergeschwappt Wie viel queerer Geist durchzieht den Mainstream? Aus Sicht von Armin Morbach sind es vor allem Erscheinungen wie das Tragen von Bärten, das Benutzen von Kosmetik, Intimrasuren oder auch die plötzliche Vorliebe heterosexueller Kerle für Muskelshirts und Skinny-Jeans, die über die Grenzen des schwulen Kosmos hinaus das Bild des modernen Mannes geprägt haben.
«Am schnellsten mit der Adaption sind Fussballer, weil diese viel mit Mode konfrontiert werden und auch entsprechende Verträge haben», klärt Morbach auf und wird in seiner Aussage von Michael Michalsky unterstützt: «David Beckham hat da viel geholfen. Er hat den ‹metrosexuellen› Mann bekannt gemacht. Auch deshalb kann man heute einen Typ, der sich pflegt und modisch kleidet, nicht mehr einer bestimmten sexuellen Orientierung zuordnen.» Was vielleicht nicht das Schlechteste ist, wenn es darum geht, Vorurteile abzubauen. Obwohl! «Sobald Schwule einen Trend abgegeben haben, man denke an Gesichtscremes oder Enthaarung, dann wollen sie recht schnell das genaue Gegenteil», ergänzt Morbach und spielt damit auf den aktuell stark verbreiteten Wunsch vieler Homosexueller an, eine besonders starke Maskulinität auszustrahlen.
Auch was Fetischmode betrifft, die lange Zeit stark mit LGBTIQ-Subkulturen verknüpft war, lasse sich eine zunehmende Akzeptanz in der Gesamtbevölkerung verzeichnen. Es lande deutlich mehr Lack und Leder in den Einkaufstaschen der Menschen. Wenngleich Luft nach oben bleibe. «Im Berghain oder irgendwelchen Hamburger Szeneeinrichtungen gibt es sicher Heteros, die ausgefallenere Klamotten tragen. Das war es dann aber schon. Sonst siehst du solcherlei Klamotten nur bei Faschingspartys», meint Morbach.
Butchs und Lipstick-Lesben Obwohl Frauen deutlich mehr Mode konsumieren als Männer – der Umsatz mit Damenbekleidung lag 2018 in Deutschland bei 33,6 Milliarden Euro versus 16,5 Milliarden Euro bei Herrenbekleidung (Quelle: statista.com) – sagt man vor allem Lesben gern nach, dass sie sich kaum Gedanken um ihr Äusseres machen würden. Eine unzulässige Verallgemeinerung, findet Michael Michalsky. «Ich kenne einige sehr stylische Lesben. Aber ich weiss, was die Menschen meinen.» Das Bevorzugen geschlechtsneutralerer oder stärker mit Männern assoziierter Accessoires und Styles (Hemden, Hosen, kurze Haare, Gesichts- und Körperbehaarung) sei aus Sicht des Designers aber keinesfalls als unmodisch zu bewerten, sondern einfach als anders, was wiederum für mehr Individualismus und Mut spreche.
«Lesben verurteilen einander weniger für ihr Aussehen oder ihre Geschmackspräferenzen», fügt Morbach hinzu. «Da kann die eine kerlig aussehen und die andere Lippenstift tragen.» Ferner würden viele lesbische Frauen die feministische Forderung nach Selbstbestimmung – auch und vor allem in Bezug auf den eigenen Körper – unterstützen. Selbst wenn es sich dabei um eine von der sexuellen Präferenz losgelöste Bewegung handle, sei Rücksichtnahme innerhalb der lesbischen Community besonders weit verbreitet. Eine Entwicklung, von der sich viele Schwule noch eine Scheibe abschneiden könnten. «Heute wirst du angefeindet, wenn du dir ein Lycra-Shirt anziehst und bauchfrei durch die Gegend läufst. Zumindest, wenn du kein Sixpack hast. In unserer Szene haben wir kaum Toleranz für andere übrig, obwohl wir sie nach aussen gern verlangen», sagt Morbach.
Aufgeweichte Geschlechtergrenzen Sendungen wie «Queen Of Drags» und «RuPauls Drag Race» erfreuen sich ebenfalls zunehmender Beliebtheit bei einem breiten, nicht-queeren Publikum. Da stellt sich die Frage, ob modische Experimente fern des eigenen, sozialisierten Geschlechts die logische Konsequenz sein könnten. Ist Crossdressing vielleicht schon heute der Trend von morgen? «Wohl kaum», urteilt Armin Morbach. «Zwar gibt es Drags wie Violet Chachki, Miss Fame oder Issehungry, die auf grossen Modeschauen laufen, nur werden diese eben auch von Gaultier und anderen grossen Marken gesponsert. Das sind Ausnahmen. Die meisten deutschen Drags, wie zum Beispiel Nina Queer und Olivia Jones, sind hingegen in erster Linie Comedyqueens und Entertainer*innen und beeinflussen keine Styles.»
Was er dennoch beobachte, sei der Wille vieler Designer*innen, auf ihren Modeschauen mit Geschlechtsstereotypen zu brechen. «Die Modeschöpfer*innen wünschen sich, dass Männer auch Röcke tragen. Oder die jeweiligen Knopfleisten von Bluse und Hemd endlich der Vergangenheit angehören. Solche Versuche werden allerdings selten angenommen. Wir können die Laufstege der Welt nun mal nicht ins alltägliche Leben übertragen», sagt er. Demnach bleibe es auch unwahrscheinlich, dass man solchen kreativen Auswüchsen morgens beim Pendeln begegne. «Wenn ich jetzt morgen mit Rock, grossem Ausschnitt und High Heels auf den roten Teppich gehe, brächte das vielleicht eine Schlagzeile, aber wirklich etwas bewegen würde es vermutlich nicht», schliesst Morbach.
Michael Michalsky: «Anders ist das neue Normal»
Ein Hauch von Uniformität, der es trotzdem bis in die Regale vieler Modeketten geschafft habe, sei der Boyfriend-Look. Sprich übergrosse Klamotten mit Schnittmustern, die an typische Männermode erinnerten, aber von Frauen getragen würden. Und auch die Leidenschaft vieler Drags und People of Color für Perücken habe Damen auf der ganzen Welt dazu ermutigt, «obenrum» stärker aufzutrumpfen.
Bloss nicht auffallen Männer, darunter auch die meisten Schwulen, neigten laut Armin Morbach hingegen kaum zu wirklicher Expressivität. «Wie viele modeaffine Schwule gibt es denn? Vielleicht ein Zehntel kauft sich Taschen von Louis Vuitton. Wenn du in einen Schwulenclub gehst und dir die Typen dort anschaust, siehst du nur noch Basic-Teile. Da ist ein einzelnes ausgefallenes Accessoire schon das höchste der Gefühle», so Morbach weiter. Veranstaltungen wie der CSD blieben eine der wenigen Gelegenheiten, um Harnische und Jocks auszupacken.
Doch woran liegt das? Sind Männer generell weniger als Frauen interessiert daran, ihrer Persönlichkeit durch ein adäquates Styling Ausdruck zu verleihen? Oder ist es vielmehr die Sorge, aufgrund aussergewöhnlicher Farben und Formen in den Fokus der Aufmerksamkeit zu geraten und somit angreifbar zu werden? Man denke nur daran, wie man sich in der Medienlandschaft über Donald Trumps übergrosse, rote Krawatten echauffierte. Ob diese nun als Zeichen für den Mut oder doch eher für den Grössenwahn des noch amtierenden amerikanischen Präsidenten zu werten seien, sei dahingestellt. Als Fazit der öffentlich geführten Debatte blieb jedenfalls zurück, dass einzig ein schlichter Look für Integrität stehen könne und dass man, sofern man dessen Grenzen zu sehr ausreize, schnell als eigenwilliger Zeitgenosse gelte.
«Ich hasse das Wort Paradiesvogel. Leute, die sich etwas trauen, die bunter und lauter auftreten, sind in ihrem Privatleben oft allein. Das ist die Kehrseite. Wir sind so verkorkst in unserem Denken, dass wir die Persönlichkeit dahinter gar nicht wirklich kennenlernen wollen», prangert Morbach an. «Unser visuelles Auge ist auf den möglichst unauffälligen Typ von nebenan trainiert. Mein Lieblingswort ist in diesem Zug ‹heterolike›. Was soll das sein? Ist es vielleicht nur ein unbefriedigter Gedanke in mir selbst, weil ich mich zu tuntig fühle?»
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Vergangenheit versus Gegenwart «In den Achtziger- und Neunzigerjahren des letzten Jahrhunderts waren schwule Männer sicherlich modischer, oder sagen wir, mehr an Stil interessiert», meint Michael Michalsky. «Heute denken aber insgesamt viel mehr Menschen darüber nach, wie sie sich kleiden.» Hinzukomme ein soziologischer Faktor, der in seiner Wirkkraft ebenfalls nicht zu unterschätzen sei und eine Erklärung dafür liefere, warum Hanky-Codes und auffällige modische Elemente bei Schwulen und anderen Mitgliedern der LGBTIQ-Community zunehmend unwichtiger geworden seien.
«Mit der voranschreitenden Gleichstellung der Homosexuellen und einer erhöhten Akzeptanz seitens unterschiedlicher Gesellschaftsschichten sind Ausgrenzung und Anderssein für uns nicht mehr so existenziell», führt Michalsky aus. Man lebe offener und es gebe auch mehr sichtbare «spiessige Schwule und Glamourlesben». Prototypen für ein vielfältigeres Spektrum queerer Charaktere, das auch Konformität beinhalte. Es brauche scheinbar weniger nach aussen gerichtete Signalwirkung, um den Kampf nach Befreiung visuell zu unterstreichen. «Wir sind angekommen und werden vermutlich nie wieder so laut und bunt sein, wie wir es einmal waren», reflektiert Armin Morbach.
Von mir bekommen alle 100 Punkte, die sich auch mal crazy anziehen.
Wie drücke ich meine eigene Identität modisch aus? Armin Morbach fordert, dass die Community wieder waghalsiger werde: «Wir sollten aufhören, wie Klone herumzulaufen. Mode gehört zur Identitätsbildung dazu. Ich wünsche allen, egal ob lesbisch, schwul, queer oder trans, dass sie einmal in den Genuss kommen, von anderen für ihre modische Kühnheit bestaunt zu werden. Von mir bekommen alle 100 Punkte, die sich trauen, sich auch mal crazy anzuziehen.» Auch Michael Michalsky kann sich dem nur anschliessen: «Mode schafft und unterstützt Individualität. Individueller Stil ist sexy, sendet Signale aus und fördert – richtig angewandt – die Persönlichkeit zu Tage.»
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Es sei zudem wichtig, zu hinterfragen, warum man sich kleidet, wie man es tut. «Ich würde behaupten, solange ein Mensch einen bestimmten Stil pflegt, nur um damit die Zugehörigkeit zu einer Gruppe auszudrücken, hat er oder sie seinen eigenen Stil noch nicht gefunden.» Bedeutet das nun aber, dass man all seine regenbogenfarbenen Klamotten und Accessoires in die Altkleidersammlung geben sollte? Keineswegs! Nur macht es vielleicht Sinn, zu überlegen, ob man überhaupt weiss, dass die Farben für die Werte Toleranz, Akzeptanz, Vielfalt, Hoffnung und Sehnsucht stehen.
Schlussendlich ist es spannend, zu erleben, wie in einer Gesellschaft, die an allen Ecken und Enden zur Selbstverwirklichung neigt, Mode an Exzentrik verliert. Egal, ob von homo-, hetero-, asexuellen oder trans Menschen getragen.
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