Nach Wirbel um transpolitische Positionen: Nicola Sturgeon tritt ab
Aus für Schottlands Regierungschefin
Nicola Sturgeon wollte für Schottland eine betont andere Politik als die britische Regierung in London: liberal, grün und sozial. Zuletzt unterliefen der «First Minister» aber Fehler. Nun tritt die Regierungschefin zurück. Ihr grösstes Ziel erreichte sie nicht.
Von Benedikt von Imhoff und Larissa Schwedes, dpa
Die Befürworter*innen einer schottischen Unabhängigkeit verlieren ihr Gesicht: Völlig überraschend hat Nicola Sturgeon ihren Rücktritt als Regierungschefin und Vorsitzende der Schottischen Nationalpartei (SNP) angekündigt. Teil guter Führung sei, instinktiv zu wissen, wann der richtige Zeitpunkt gekommen ist, sagte die 52-Jährige auf einer kurzfristig angesetzten Pressekonferenz in Edinburgh. «Mit meinem Herzen und meinem Verstand weiß ich, dass dies der richtige Zeitpunkt ist.»
Der britische Premierminister Rishi Sunak und seine Konservative Partei verlieren damit eine ihrer bekanntesten und erbittertsten Gegnerinnen. Mit einer betont liberalen Politik hatte Sturgeon wiederholt Alternativen zur harten Linie der Regierung in London aufgezeigt und damit mehrere Premierminister vor sich hergetrieben. Dennoch schaffte sie es in mehr als acht Jahren im Amt nie, im nördlichsten britischen Landesteil eine nachhaltige Mehrheit für die Loslösung vom Vereinigten Königreich hinter sich zu versammeln, wie die Politologin Kirsty Hughes der Deutschen Presse-Agentur sagte.
Auch wenn Sturgeon in ihrer Pressekonferenz einen Zusammenhang dementierte: Zum Verhängnis wurde ihr schliesslich ein Streit um ein kontroverses Gender-Gesetz. Mit dem Vorhaben, dem das schottische Parlament zugestimmt hat und das von der britischen Regierung blockiert wird, soll unter anderem die Pflicht für ein medizinisches Gutachten als Voraussetzung für eine Änderung des Geschlechtseintrags entfallen. Kritiker*innen wie «Harry Potter»-Autorin Joanne K. Rowling warnen, Männer könnten die vereinfachten Regelungen ausnützen, um aus sexuellen Motiven in Bereiche einzudringen, die Frauen vorbehalten sind, wie zum Beispiel Damenumkleiden oder -toiletten.
Der Fall einer trans Frau, die noch vor ihrer Geschlechtsanpassung als Mann zwei Frauen vergewaltigt hat, spitzte die Kontroverse zu. Nach öffentlichem Aufruhr entschied Sturgeon, die Sexualstraftäterin nicht in einem Frauengefängnis unterzubringen. In einem Interview geriet die Politikerin Ende Januar ziemlich ins Schlingern. Ob alle trans Frauen Frauen seien, wollte sie nicht klar beantworteten und redete sich damit heraus, im «Gefängniskontext» hätten trans Frauen nicht automatisch ein Recht auf Unterbringung im Frauenbereich. Beobachter*innen werteten dies als Bruch mit ihrer vorherigen Linie.
Noch vor einem Monat machte Sturgeon den Anschein, nicht einmal entfernt über einen Rücktritt nachzudenken. Sie habe «noch viel im Tank», sagte die Politikerin energisch in einem BBC-Interview. Nun aber stotterte ihr Motor doch. Die Politikerin habe zuletzt müde und erschöpft gewirkt, sagte Politologin Hughes. Sturgeon selbst betonte, sie sehne sich nach Privatsphäre und Zeit mit Freunden und Familie. Im knallroten Kostüm, vor einer schottischen Fahne, wirkte die scheidende Regierungschefin nach ihrer Ankündigung geradezu gelöst und konnte sich kaum das Lächeln verkneifen.
Ihre Partei und damit auch die Unabhängigkeitsbewegung stehen aber am Scheideweg. Ihre Person habe die Debatte zu sehr polarisiert, sagte Sturgeon. Doch tatsächlich traf die führende schottische Politikerin des vergangenen Jahrzehnts zu viele Fehlentscheidungen, wie Expertin Hughes sagte. So habe Sturgeon für ihr Vorhaben, die nächste britische Parlamentswahl zu einem De-facto-Referendum über die Unabhängigkeit zu machen, nicht die Unterstützung der gesamten Partei gehabt. Auch in der Gender-Debatte bestand die Parteichefin auf ihrer Position – trotz lauten Unmuts in den eigenen Reihen.
Klar ist schon jetzt: Ohne die allgegenwärtige Sturgeon, seit 1999 im Regionalparlament, seit 2004 in leitender Parteifunktion und seit November 2014 die am längsten amtierende Regierungschefin der schottischen Geschichte, wird sich der Landesteil verändern. Damals folgte sie nach dem gescheiterten Unabhängigkeitsreferendum auf Alex Salmond, der mittlerweile mit Sturgeon zerstritten ist und eine neue Partei, Alba, gegründet hat.
Nun ist die Zukunft ungewiss. Es gebe keine natürliche Nachfolgeregelung, sagte Hughes. Genannt wird etwa Finanzministerin Kate Forbes, die eben erst aus der Elternzeit zurückkehrt. Auch Sturgeons Vize John Swinney und Gesundheitsminister Humza Yousaf gelten als Kandidaten.
Das Streben nach Unabhängigkeit dürfte auch ohne Sturgeon das Kernthema bleiben. Eigentlich wollte die Partei Mitte März bei einem Sonderparteitag den Kurs dorthin festlegen. Das steht nun in Frage – kaum vorstellbar, dass die Nachfolge dann geklärt ist. Sturgeon gab sich zuversichtlich. «Ich glaube fest daran, dass mein Nachfolger Schottland in die Unabhängigkeit führen wird», sagte sie. Der frühere SNP-Fraktionschef in London, Ian Blackford, lobte Sturgeon als Architektin der angestrebten Loslösung. «Wir sind es ihr schuldig, die Arbeit zu vollenden», sagte er.
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