«Schandfleck deutscher Geschichte»
Schwule Männer wurden im Nationalsozialismus verfolgt, in den Selbstmord getrieben, in Lager verschleppt und umgebracht. Der Dortmunder Historiker Frank Ahland hat nun die damalige Situation schwuler Männer im Ruhrgebiet, Deutschlands grösstem Ballungsraum, analysiert – mit erschreckenden Erkenntnissen. Interview: Stephan Lücke Bilder: Frank Ahland, International Tracing Service (ITS) Arolsen, Stadtarchiv Dortmund
Frank, in Berlin gab es bis zur Machtergreifung Hitlers eine florierende schwullesbische Szene. Wie war das im Ruhrgebiet? Es gab eine Szene, aber sie war sicherlich wesentlich kleiner und weniger offen als in Berlin. Es existierten mehrere Lokale in Dortmund und Essen, in denen sich schwule Männer und lesbische Frauen trafen. Zudem existierten sogenannte Klubs, deren Mitglieder sich in bürgerlichen Restaurants trafen. Die Wirtschaft «Germania» war in den Zwanzigerjahren beispielsweise Treffpunkt des «Klubs Harmonie». Die Termine wurden in Szenezeitschriften bekannt gegeben. Eintritt hatten nur «einwandfrei Invertierte».
Was bedeutet das? Der Begriff bedeutet, dass nur Schwule und Lesben erwünscht waren, aber keine Stricher – vielleicht auch keine sogenannten Tunten, aber das ist unsicher. Tunten waren in der Szene, die sich im bürgerlichen Milieu abspielte, nicht gerne gesehen, weil man nicht auffallen und mit dem Gesetz in Konflikt geraten wollte. Zudem fürchteten viele schwule Männer, von Strichern erpresst und womöglich verraten zu werden. Viele sorgten sich um ihre bürgerliche Existenz. Denn es gab seit 1872 den Paragrafen 175, der homosexuelle Handlungen unter Strafe stellte. Zur Weimarer Zeit ging die Polizei diesen Vergehen aber kaum nach.
Was sich vermutlich mit der Machtergreifung Hitlers änderte? Ja, nachdem die Zwanzigerjahre im Ruhrgebiet – ähnlich wie in Berlin – ausgesprochen liberal gewesen waren, änderte sich dies schlagartig ab 1933. Schwullesbische Lokale und Klubs mussten schliessen, Homosexuelle wurden vor allem ab 1937 systematisch verfolgt. Dies zeigen Einzelbiografien schwuler Männer des Ruhrgebiets, die wir anhand von Polizeiakten rekonstruieren konnten. Eine davon ist die von Alex Damm, dem als erstem schwulem Mann ein Stolperstein in Dortmund gewidmet wurde. Stolpersteine sind im Boden verlegte kleine Gedenktafeln, die an das Schicksal von NS-Opfern erinnern sollen.
[pullquote align=“full“ cite=““ link=““ color=“#00a28e“ class=““ size=““]«Zur Weimarer Zeit ging die Polizei dem Vergehen der homosexuellen Handlungen kaum nach.»[/pullquote]
Was für ein Mann war Alex Damm? Er war vor allem ein sehr mutiger Mann. Im August 1936 erhielt er Post von der Kriminalpolizei Dortmund, vermutlich, um dort zum Verhör zu erscheinen. Kurz zuvor war der Paragraf 175 von den Nazis erheblich verschärft worden; fortan reichte schon ein Kuss oder «begehrlicher Blick», um verhaftet zu werden. Weil der homosexuelle Mann wohl ahnte, was geschehen wird, nahm er sich das Leben. Er stürzte sich in die Ruhr und ertrank. Wie genau er das tat, ist nicht bekannt, aber man weiss, dass er in Essen-Steele aus der Ruhr gezogen wurde. Alex Damm hat einen sehr bewegenden Abschiedsbrief hinterlassen. In ihm schrieb er: «Wenn Sie diesen Brief in Händen halten, so bin ich nicht mehr unter den Lebenden. Denn ausgerechnet der Nationalsozialismus soll mir kein Urteil über meine Veranlagung sprechen.» Am Ende heisst es dann: «Ich will mich nicht vor einem irdischen Richter verantworten, sondern vor meinem Gott, der mich erschaffen hat, wie ich bin.»
Berührend und zugleich sehr geradlinig … Ja, für einen 55-jährigen Mann der damaligen Zeit ist das in der Tat sehr selbstbewusst. Er schreibt zwar nicht explizit, dass er schwul ist, drückt aber doch eindeutig eine sexuelle Identität aus, die wir heute als schwul bezeichnen würden. Louis Schild ist ein weiterer Mann, der sehr selbstbewusst mit seiner Homosexualität umging, allerdings auf eine ganz andere Art und Weise.
Inwiefern? Louis Schild, ebenfalls Mitte 50, war mit etwa 1,55 Meter ein kleiner Mann und sah für sein Alter schon recht verbraucht aus; vermutlich hatte er schon als Kind eine schwere Erkrankung gehabt, und war von dieser gezeichnet. Louis Schild, der übrigens aus einer angesehenen jüdischen Familie stammte und in Essen als Vertreter für Textilprodukte arbeitete, hatte ein ausgeprägtes Faible für jüngere Männer. In einem Automatenrestaurant in der Essener Innenstadt suchte Louis Schild Kontakt zu ihnen.
Entschuldige bitte die Zwischenfrage, aber was ist ein Automatenrestaurant? Automatenrestaurants waren damals etwas sehr modernes. Im Kaiserreich entstanden die ersten und in den Dreissigerjahren gab es im Ruhrgebiet mehrere davon, in der Dortmunder Brückstrasse existierte beispielsweise auch eines. Man bekam das Essen aus Klappen und bezahlte – je nach Restaurant – entweder per Münzeinwurf oder man legte das Geld auf das Tablett und ging zur Kasse. Automatenrestaurants waren, eben weil sie so modern waren, auch Treffpunkte der Jugend. Louis Schild ging öfters in diese Läden, wahrscheinlich auch, um junge Männer kennenzulernen. Diese sprach er recht offensiv an – heute würde man wohl eher von «dreist» sprechen. In einem Polizeibericht hiess es etwa, dass er junge Männer «tätschelte» und «liebkoste». Daraufhin bekam er im Automatenrestaurant Hausverbot und begab sich, anstatt es einfach dabei beruhen zu lassen, zur Polizei und beschwerte sich darüber. Die Polizei, die zu dieser Zeit schon völlig Nazi-durchseucht war, scherte sich natürlich überhaupt nicht um das Hausverbot, sondern wurde hellhörig. Sie begann, gegen Louis Schild zu ermitteln, konnte jedoch nichts finden, um ihn zu verurteilen.
Hätte er nicht nach Paragraf 175 verurteilt werden können? Nein, zu diesem Zeitpunkt, im Februar 1935, galt noch der alte Paragraf 175. Verschärft wurde dieser erst ein paar Monate später. Zu diesem Zeitpunkt hätte man Louis Schild Analverkehr mit einem Mann nachweisen müssen, um ihn belangen zu können. Alles andere war bis dahin noch straffrei. Das änderte sich im September 1935, als das Gesetz – wie bereits erwähnt – verschärft wurde. Bis Kriegsende wurden übrigens mehr als 100000 Männer polizeilich erfasst, viele landeten in Konzentrationslagern und wurden dort ermordet.
Wie ging es mit Louis Schild weiter? Die Polizei hatte nichts gegen ihn in der Hand und stellte das Verfahren ein. Kurze Zeit später aber, Ende August 1935, wenige Tage bevor die Gesetzesverschärfung in Kraft trat, denunzierte ein Nachbar Louis Schild – er lebte in einer grösseren Wohnung, deren einzeln abgeteilten Zimmer von alleinstehenden Herren bewohnt wurden. Aufgrund der dünnen Wände und des gemeinsamen Flurs gab es hier eine starke soziale Kontrolle. Welchen Besuch der Nachbar bei Louis Schild genau beobachtet hatte, ist nicht bekannt, jedenfalls begann die Polizei wieder, gegen ihn zu ermitteln. Wieder konnte sie nichts finden und wieder stellte sie die Ermittlungen aufgrund fehlender Beweise ein. Doch die Essener Gestapo, die anders als die Polizei nicht an rechtstaatliche Normen gebunden war, nahm Louis Schild sofort in Schutzhaft – was das Gegenteil von dem bedeutet, was das Wort eigentlich aussagt – und versuchte, ihn ins KZ einzuweisen. Erstaunlicherweise konnte er noch Einspruch einlegen, was aus seiner Gestapo-Akte hervorgeht. Auch sein Bruder, der Arzt war, unternahm offenbar mehrere Versuche, Louis Schild da herauszuholen. Doch die Gestapo war in diesem Fall wahrscheinlich besonders erbarmungslos, weil Louis Schild aus Sicht der Nazis in gleich zweierlei Hinsicht nicht Teil der Volksgemeinschaft war – als Jude und als schwuler Mann.
Also brachten sie ihn in ein KZ? Genau, es nützte alles nichts, und sie verschleppten Louis Schild ins KZ Esterwegen im Emsland, das zeitweise nach Dachau das grösste Konzentrationslager in Deutschland war. Dort ist er nach einem Monat ums Leben gekommen.
Auf welche Weise? Die Häftlinge von Esterwegen wurden ins Moor herausgetrieben, um dort Zwangsarbeit zu verrichten. Sie mussten Torf stechen. Für einen kleinen und gesundheitlich ohnehin angeschlagenen Mann wie Louis Schild war das eine unheimlich schwere Arbeit, weil der Torf nass und dadurch sehr schwer war. Um ins Moor zu gelangen, mussten die Häftlinge Wasserläufe überwinden, die der Entwässerung dienten. Über diese führten schmale Balken; um nicht ins Wasser zu fallen, stützten sich die Häftlinge untereinander. Louis Schild wurde dies aber verweigert, und er fiel ins Wasser. Er versuchte, herauszukommen, wurde jedoch von einem SS-Mann, Gustav Sorge mit Namen, immer wieder hineingestossen. Das ging eine Zeit lang so weiter, bis er dann doch raus durfte. Es wurde ihm jedoch nicht erlaubt, seine Kleidung zu wechseln oder sich am Feuer zu wärmen, an dem die SS-Männer sassen. Es war Mitte November, also nicht nur nass, sondern auch kalt. Kurze Zeit später traten Verwirrtheitszustände auf, womöglich mit Fieber, und am nächsten Morgen war er tot.
Wurde Gustav Sorge nach Kriegsende der Prozess gemacht? Ja, Gustav Sorge wurde Ende der Fünfzigerjahre in Bonn zu lebenslanger Zuchthausstrafe verurteilt. Anders als andere Kriegsverbrecher, denen der Prozess gemacht wurde, machte Gustav Sorge detaillierte Angaben, wie es zur Tötung einzelner KZ-Häftlinge gekommen war. Deswegen wissen wir heute auch so genau, was mit Louis Schild passiert ist. Interessanterweise sah das Gericht in Louis Schild nicht einen Homosexuellen, sondern einen Juden. Ich vermute, dass man Gustav Sorge als tausendfachen Massenmörder verurteilen wollte und deswegen verschwieg, dass eines der Opfer schwul war. Sonst wäre es vermutlich nicht zu einer Verurteilung gekommen. Wir dürfen nicht vergessen: 1959 befand sich die Schwulenverfolgung nach Paragraf 175 in der Bundesrepublik auf ihrem Höhepunkt. Das ist ein weiterer Schandfleck deutscher Geschichte, der bei der Aufarbeitung des Nazi-Terrors einfach vergessen wurde und dringend einer gründlichen Untersuchung bedarf. Stoff genug für ein neues Forschungsprojekt.
Frank Ahland, 50, ist promovierter Historiker in Dortmund. Er studierte Geschichte und Soziologie an der Ruhr-Universität Bochum und hat sich unter anderem auf Lokal- und Regionalgeschichte spezialisiert. Im Spätsommer erscheint der Band mit den Beiträgen einer von ihm organisierten Tagung zur schwullesbischen Geschichte des Ruhrgebiets im 20. Jahrgebiet.
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