Russland oder EU? Georgien muss sich entscheiden
Immer wieder kommt es zu roher Gewalt gegen LGBTIQ
15 Jahre nach dem Krieg mit Russland sieht Georgien weiter ein Fünftel seines Gebiets besetzt. Das Land hofft zwar wie die Ukraine auf eine EU-Mitgliedschaft. Aber die Regierung in Tiflis arrangiert sich zunehmend wieder mit Moskau – zum Ärger des Westens.
Von Ulf Mauder, dpa
Die Hassparolen gegen Russen und vor allem gegen Kremlchef Wladimir Putin schlagen Besucher*innen auf den Strassen der georgischen Hauptstadt Tiflis an vielen Stellen ins Gesicht. «Russland ist ein Terrorstaat», steht an einer Wand. Auch die blau-gelben Flaggen der Ukraine sind allgegenwärtig. Weil die Südkaukasusrepublik vor 15 Jahren selbst einen Krieg mit Russland erlebte, ist die Solidarität hier besonders gross mit der Ukraine. Zugleich gewährt Georgien heute auch vielen Russ*innen, die vor Putins Kriegsdienst geflohen sind, Zuflucht.
Und auch Touristen kommen zu Zehntausenden in die für ihre kaukasische Küche, Wein, Berge und Strand bekannte Schwarzmeerregion. Die Regierung des eigentlich in die EU strebenden Landes wendet sich trotz der Kriegserfahrung heute wieder stärker Moskau zu – zum Ärger des Westens und vieler Menschen im Land. «Die Gesellschaft ist völlig gespalten», sagt der Soziologe Iago Katschkatschischwili bei einem Treffen in seinem Institut in Tiflis (Tbilissi). «Die Mehrheit will in die EU, aber viele verstehen kaum, dass der Weg lang ist.»
Dennoch gibt es eine Tendenz, sich mit dem Feind als grossem und mächtigem Nachbarn zu arrangieren. Besonders deutlich wird das beim Tourismus. Putin liess im Mai wieder Direktflüge zwischen beiden Ländern zu – erstmals seit 2019. Er hob den Visa-Zwang für Georgier auf, was nun Besuche in Russland vereinfacht.
Georgiens Regierung tritt zwar weiter nach aussen immer wieder proeuropäisch auf. «Aber sie tut nichts für einen EU-Kurs, wird vielmehr immer prorussischer», sagt Katschkatschischwili. «Ausgeprägt sind nationalistische Tendenzen, die Führung beruft sich auf Traditionen und Geschichte unserer alten Zivilisation.» Der Westen werde als Lehrmeister abgelehnt.
Das Gerichtssystem ist völlig korrupt, dient den Interessen der Politik.
Dabei sieht der Experte auch die georgisch-orthodoxe Kirche als treibende antiliberale Kraft und wichtige Machtstütze der Regierung. Zu sehen war das in diesem Sommer, als Kirchenanhänger und Ultranationalisten einmal mehr mit roher Gewalt gegen eine Pride-Veranstaltung für mehr Toleranz gegenüber LGBTIQ vorgingen (MANNSCHAFT berichtete). Auch 2021 kam es zu gewalttätigen Ausschreitungen bei einer LGBTIQ-Demo (MANNSCHAFT berichtete). Ein Fernsehjournalist starb, nachdem er zusammengeschlagen worden war (MANNSCHAFT berichtete).
Auch andere europäische Errungenschaften wie ein Mindestlohn und weitere Arbeitnehmerrechte sowie eine unabhängige Justiz seien nicht in Sicht, sagt der Soziologe. «Das Gerichtssystem ist völlig korrupt, dient den Interessen der Politik.» Dabei sieht der Experte in der Gesellschaft eine grosse Mehrheit, die die Politik des Kreml ablehne.
Einer, der gegen eine neue russische Dominanz und für eine Zukunft in der EU kämpft, ist der Oppositionspolitiker Giga Bokerija, einst Chef des Nationalen Sicherheitsrates unter dem inzwischen inhaftierten Ex-Präsidenten Michail Saakaschwili. «Bei uns läuft heute eine Dämonisierung des Westens. Die Regierungspartei tut so, als gäbe es nur die Wahl, sich mit Russland gutzustellen – oder einen neuen Krieg zu riskieren», sagt der 51-Jährige bei einem Treffen in Tiflis.
«Es kann aber keinen Deal mit Putin geben, wenn wir als Land unsere Würde behalten wollen», betont Bokerija. Vor der Parlamentswahl im nächsten Jahr will er eine neue proeuropäische Koalition schmieden. «Das ist die historische Chance für eine Bewegung Richtung Europa, was für uns die einzige richtige Zivilisation ist. Wenn sich nichts bei der nächsten Wahl ändert, dann wird das ein Desaster.»
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